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Sylvia Townsend Warner:

Die Ecke, die mich festhielt

 


 

Vorbemerkung: Ein fremder Wald und eine Krankenlektüre

 

Allesleserinnen wie mir passiert es nicht oft, dass sie ein Buch geschenkt bekommen, von dem sie nicht nur noch nie gehört haben, sondern dessen Verfasserin ihnen noch nicht einmal begegnet ist beim habituellen Vorbeischlendern an den Regalen der Weltliteratur. Hat man nicht, wenn man ein gesegnetes Lesealter von gut 50 Lesejahren erreicht hat, alles schon einmal gesehen – zumindest im etwas weiter ausgreifenden eigenen Kulturkreis und angesiedelt auf den unterschiedlichen Niveaus dessen, was mit gehobener Unterhaltungslektüre anfängt und sich erhebt bis zu den Höhen der Klassiker (mit gelegentlichen Abstiegen in die Lese-Subkulturen, welche abenteuerlustige Allesleserin täte das nicht?)? Dazu kamen zwei weitere Faktoren, die die Unwahr-scheinlichkeit meiner Unbekanntschaft zwar einerseits erhöhen, aber andererseits auch herabsetzen sollten: Zum einen war die Autorin eine Frau – bekanntlich bis vor einigen Jahrzehnten eher unterrepräsentiert in der schreibenden Zunft. Aber andererseits hatte ich mich nun schon einige Jahren wissenschaftlich wie privat auf weibliches Schreiben und Lesen auch in seinen entlegeneren Provinzen konzentriert. Ich aber kannte Sylvia Townsend Warner nicht, die für mich seit diesem ersten Buch, das ich nun wieder neben mir liegen habe, eigentlich „Lolly Willowes“ hieß. Denn so heißt das Buch, das ich geschenkt bekam von einer Freundin, und der Titel war so verwirrend und so in die Irre leitend wie das ganze Buch beim ersten Anblick und der Lektüre der ersten Seiten. Was sollte frau nun für die Erstlektüre einpacken, das feine Lektürebesteck oder eher grobe, wetterfeste Kleidung und derbes Schuhwerk? Außerdem, das sei hier nur kurz gesagt, weil es eine Rolle spielt: War ich krank. Ziemlich krank. Es war eine Krankenlektüre. Wie sich wenig später beim Lesen meines zweiten Buches von Sylvia-Lolly herausstellen sollte, wurde sie in dieser schwierigen Zeit zu einer „Corner that held me“ – einem inneren Stützstein, dem Schlussstein in einer Mauer, zu einer Ecke, die mich festhielt, als alles zu wanken und zu bröseln begann in meinem siechen Körper und sympathisierenden Kopf. Von dort an las ich mich voran, las mich durch mehrere Wälder (noch nicht alle, man soll sein noch einige weiße Flecken auf seiner inneren Lektüre-Landkarte aufsparen, wer weiß, wann man sie braucht!) und wurde dabei, für kurze Pausen – selig gleichgültig.

 

 

I. Lolly Willowes or the Loving Huntsman: Hexen und Teufel
und die große Gleich-Gültigkeit des reinen Seins

 

 

 

Aber fangen wir am Anfang an, nämlich mit Lolly Willowes und dem verliebten Jäger und dem Wald, in den ich hineinstolperte, wie man viel öfter in echte und Lese-Wälder hineinstolpern sollte, nämlich: orientierungslos. Vorurteilsfrei. Nicht-erwartend, nicht-erhoffend. Einfach mal drauflosgehend! In der Originalsprache lautet der vollständige Titel: Lolly Willowes or The Loving Huntsman, und irgendwie tauchte vor meinem inneren Auge spontan so eine Art romantischer jägergrüner Freischütz auf, etwas aus der Zeit gefallen. Er trieb durch die „Willowes“, die Weiden, mit den verführerischen Doppel-Ls, und die verwehten Herbstblätter auf dem Titelblatt des schmalen Taschenbuchbändchens verstärkten den Eindruck von Wald und sanft lispelnden Bächlein noch. Ein Operntitel? Eine Satire?? Wie man sich irren kann!
Der Anfangssatz gibt sich bedeckt: „When her father died, Laura Willowes went to live in London with her elder brother and his family“. Das riecht mehr nach Jane Austen als nach romantischen Frei-schützen: Man macht uns bekannt mit einer typischen Tante, die aus Gründen (sie werden klar werden) nicht verheiratet werden konnte und nun der Verwandtschaft zur Seite oder im Wege steht – beides kommt vor, manchmal sogar zur gleichen Zeit. Und Tante Laura, von den Kindern Lolly genannt, ergibt sich so sanft in ihr Schicksal, dass man zunächst gar nicht auf die Idee kommt, irgendetwas könnte falsch daran sein. Sie hütet die Kinder, sie streift ziellos durch London, und sie bleibt bei all dem – merkwürdig unberührt. Doch gelegentlich erfahren wir etwas über ihr Inneres; es ist, als spräche ein selbst merkwürdig abwe-sender und anwesender Erzähler (eine Erzählerin? der Teufel, der unbemerkt schon durch sie hindurchspricht? ) in einer Art zweiten Stimme (oder einem Kontrapunkt?) aus ihr heraus, und erkläre so zum Beispiel ihren Charakter:

 

„But her upbringing had only furthered a tempera-mental indifference to the need of getting married – or, indeed, of doing anything positive – and this indiffer-ence was reinforced by the circumstances which had made her so closely her father’s companion.”Ihre Erziehung hatte nur ihre angeborene Indifferenz gegenüber der Notwendigkeit zu heiraten gefördert; oder überhaupt irgendetwas Bestimmtes zu tun; und diese Indifferenz wurde durch die Umstände ver-stärkt, die sie zu einer unersetzlichen Gefährtin ihres Vaters gemacht hatten.

Indifferenz (oder: Gleich-Gültigkeit? ist das das gleiche?), wir halten diesen unscheinbaren Schlüsselbegriff ein wenig fest, er scheint uns auf eine erste Lichtung zu führen: Haben wir es hier tatsächlich mit einer Art „Frau ohne Eigenschaften“ zu tun, Jahrzehnte vor Musils berühmten männlichen Pendant? Denn genau wie Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften im gleichnamigen Roman, hat diese Frau ziemlich originelle Gedanken und Sichtweisen und eine recht eigenwillige Ausdrucksweise. So wird ihre fortgesetzte Heiratsunwilligkeit folgendermaßen beschrieben:


“Most of their acquaintance were people connected with the law. Laura grew familiar with the legal manner, but she did not grow fond of it. She felt that these clean-shaven men with bristling eyebrows were suavely concealing their doubts of her intelligence and her probity. Their jaws were like so many mousetraps, baited with commonplace."

Die meisten Männer ihrer Bekanntschaft waren irgendwie dem Rechtswesen verbunden. Laura war mit dem juristischen Habitus vertraut geworden, aber sie hatte ihn niemals ins Herz geschlossen. Sie hatte das Gefühl, dass diese glattrasierten Männer mit den gesträubten Augenbrauen höflich ihre Zweifel bezüglich ihrer Intelligenz und Redlichkeit verbargen. Ihre Kinnbacken glichen Mausefallen, mit Gemeinplätzen als Köder.


Mausefallen, die mit Gemeinplätzen ködern? Ziemlich viel begann in diesem Moment in mir zu kichern, ich konnte zwar nicht genau erklären warum, aber ich fand das höchst belustigend. Nicht in der Sache – na gut, auch in der Sache, aber: nicht zuerst in der Sache, sondern zuerst in der Art, wie das Bild zwei Dinge zusammenbringt, die in sehr weit entfernten Assoziationsfächern wohnen, und sie so überlagert, dass sie von nun an ein fröhliches Doppelleben führen können. Mausefallen und Gemeinplätze: Sind sie nicht beide – irgendwie klebrig, man kann ihnen nicht entgehen, und schwupp ist die Falle zu und das freie Denken gefangen? (Und genau das ist auch Musils Konzept eines „anderen Sprechens“ im „anderen Zustand“, das vor allem mit ungewöhnlichen Gleich-nissen arbeitet: Man spreche nicht etwa besonders bildlich von eher unpräzisen, schwer beschreibbaren, sich dem Begriff verweigernden Dingen und Sachverhalten, und besonders abstrakt und begrifflich von theoretischen oder allgemeinen Zusammenhängen; nein, genau das Gegenteil sollte der Fall sein, Abstrakt-Allgemeines sollte maximal anschaulich, Konkret-Verschiedenes sollte maximal präzise formuliert werden! Beide Zustände, beide Welten sollten also möglich kreuzweise verschränkt werden. Das kann man Wechselwirkung nennen, oder Komplementarität, und dabei wahlweise an Goethe oder Heisenberg denken, aber besser noch kann man es beim Lesen ausprobieren, zum Beispiel an ‚Lolly Willowes‘ oder dem ‚Mann ohne Eigenschaften‘).

Nun schon ein wenig sprach- und bildsensibler geworden, schlendern wir weiter mit Lolly durch London und machen den ein oder anderen Lesehüpfer dabei. Und unmerklich kündigt sich etwas an, das geheimnisvoller und bedrohlicher ist, aber vorerst nur versteckt hinter wohlmanikürierten Londoner Parkbäumen wohnt:


„At these times she was subject to a peculiar kind of daydreaming, so vivid as to be almost a hallucination: that she was in the country, at dusk, and alone, and strangely at peace. … Her mind was groping after something that eluded her experience, a something that was shadowy and menacing, and yet in some way congenial; a something that lurked in waste places, that was hinted at by the sound of water gurgling through deep channels and by the voices of birds of ill-omen.”

Zu diesen Zeiten war sie einer eigenartigen Art von Tagträumereien unterworfen, die beinahe so lebhaft wie Halluzinationen waren: dass sie auf dem Land war, in der Dämmerung und allein, und merkwürdig friedvoll. …. Ihr Geist tastete nach etwas, das sich ihrer Erfahrung entzog, ein Etwas, das schattenhaft und bedrohlich war, und doch auch wesensverwandt; ein Etwas, das an wüsten Orten herumlungerte, auf das die Geräusche von durch tiefe Tunnel gurgelnden Wassern hinwiesen und die Stimmen unheilverkündender Vögel.


Sind wir auf einmal in einen Schauerroman geraten, von den sitting rooms in Mansfield Park direkt auf die sturmumtosten Wuthering Heights gestolpert? Ein wenig, ein wenig. Aber noch bricht der „andere Zustand“, wie wir dieses Erleben mit Musil benennen könnten, nur zu gewissen Zeiten aus. Bis Lolly eines schönen Tages einen Strauß Chrysanthemen kauft und von dem Blumenhändler dazu ein paar herbstlich bunte Buchenblätter bekommt, die ihren Geist seltsam streifen. Und mit einem Schlag hat sie eine Erleuchtung, und sie nimmt ihr Leben in die Hand, bricht alle Brücken ab (und wie die Gemeinplätze in den Mausefallen des Geistes alle lauten) und begibt sich in den wilden Wald, den sie in einem Dorf auf der Landkarte gefunden hat und von dem sie rein gar nichts weiß, außer: dass sie ihr Leben dort verbringen muss, ganz allein für sich, mit der Natur, und später einer Katze. Ihrem bisherigen Leben weint sie keine Träne nach, keine einzige; und sie triumphiert sogar nur einen kurzen Augenblick lang über ihre Verwandten:


„The amusement she had drawn from their disapproval was a slavish remnant, a derisive dance on the north bank of the Ohio. There was no question of for-giving them. She had not, in any case, a forgiving nature; and the injury they had done her was not done by them. If she were to start forgiving she must needs forgive Society, the Law, the Church, The History of Europe, the Old Testament, great-great-aunt Salome and her prayer-books, the Bank of England, Prostitution, the Architect of Apsley Terrace and half a dozen other useful props of civilisation. All she could do was to go on forgetting them“.

Das Vergnügen, das sie aus ihrer Missbilligung gezogen hatte, war ein sklavischer Überrest, ein höhnischer Tanz auf dem Nordufer des Ohio.  Es kam nicht in Frage, ihnen zu vergeben. Sie hatte sowieso keinerlei Spur von Vergebung in ihrem Wesen; und die Verletzung, die sie ihr zugefügt hatten, war nicht willentlich geschehen. Wenn sie mit dem Vergeben anfangen würde, müsste sie der Gesellschaft, dem Gesetz, der Kirche, der Geschichte Europas, dem Alten Testament, Großtante Salome mit ihren Gebetsbüchern, der Bank von England, Prostitution, dem Architekten des bürgerlichen Einfamilienhauses und einem halben Dutzend anderer sehr nützlicher Stützen der Zivilisation vergeben.

Ist das nicht ein wunderbarer Wald geworden, der solchen Sätzen den Boden bereitet bietet? Solche wildwuchernden und doch hochkultivierten Aufzählungen, sie muss man genießen, Blatt für Blatt: wie die Großtante, die auch noch Salome heißt, auf das Alte Testament folgt, die Geschichte Europas mit derjenigen der Prostitution in Gleichschritt fällt und Zivilisation, die große stolze (männliche) Zivilisation, auf ein Sammelsurium von props reduziert wird, Hilfsmitteln für Kulissenschieber. Dass nichts bis wenig passiert in diesem Buch, dass weder der in einem „normalen“ Roman längst überfällige Liebhaber auftaucht noch ein einziger Anfall von Sentimentalität erwähnt wird, diese wunderbare, wählerische und doch gleichzeitig indifferente Gleich-Gültigkeit – das ist, um noch einmal zu den englischen Autorinnen zurück-zukommen, auf deren Schultern Sylvia Townsend Warner steht, genau das, was George Eliot „Literatur für Erwachsene“ genannt hat und was auch bei ihr auf dem Lande, in Middlemarch, lebt. Sensationen sind nicht nötig, Katastrophen stellen sich ebenso wenig ein wie happy endings, und alles Leben der Welt vollzieht sich in den Sätzen, zwischen den Worten, im lakonischen Ton des Erzählens (die Handlung ist die Sprache, und Sprache ist wortgewordene Handlung). 

 

Das, was übrigens ganz nebenbei dann doch passiert, ist: Lolly erkennt, dass sie eigentlich doch lieber Laura und außerdem eine Hexe ist. Aber das ist, um ehrlich zu sein auch nichts Besonderes; denn Hexen gibt es überall dort, wo es unterdrückte, vernachlässigte, in einem „dull live“ erstickende Frauen gibt. Also überall:


„When I think of witches, I seem to see all over England, all over Europe, women living and growing old, as common as blackberries, and as unregarded. …. there they are, child-rearing, house-keeping, hanging washed dishcloths on currant bushes; and for diversion each other’s silly conversation, and listening to men talking together in the way that men talk and women listen. Quite different to the way women talk, and men listen, if they listen at all. And all the time being thrust further down into dullness when the one thing all women hate is to be thought dull. … It sounds very petty to complain about, but I tell you, that sort of thing settles down on one like a fine dust, and by and by the dust is age, settling down. Settling down! … If they could be passive and unnoticed, it wouldn’t matter. But they must be active, and still not noticed. Doing, doing, doing, till mere habit scolds at them like a housewife”.

Wenn ich an Hexen denke, scheine ich sie überall in England, überall in Europa zu sehen: Frauen, wie sie leben und alt werden, so banal wie Brombeerenhecken, und genauso unbeachtet; … da sind sie, ziehen Kinder auf, machen den Haushalt, hängen frisch gewaschene Geschirrtücher über Johannisbeerbüsche; und um sich abzulenken, führen sie miteinander alberne Gespräche, oder sie hören den Männern beim Reden zu, so wie Männer eben reden und Frauen zuhören. Das ist ziemlich unterschiedlich zu der Art, wie Frauen reden, und wie Männer zuhören, falls sie jemals zuhören. Und die ganze Zeit werden sie immer tiefer in die Dumpfheit hinabgestoßen, wo doch das Einzige, was alle Frauen hassen, ist: für dumpf und glanzlos gehalten zu werden. Es klingt ziemlich kleinlich, wenn man sich darüber beschwert, aber ich sage dir: Diese Dinge rieseln auf einen herunter wie feiner Staub, und nach und nach wird aus dem Stab das Alter, das sich hei-misch auf ihnen niederlässt. Sich niederlassen! Wenn sie nur passiv und unbemerkt wären, wäre es egal. Aber sie müssen tätig sein, und trotzdem unbemerkt. Machen, Machen, Machen, bis die reine Gewohnheit sie auskeift wie ein Hausweib.


Es ist viel Hausfrauliches in diesen Sätzen, Beerenfrüchte treten auf und Geschirrhandtücher, und über alles fällt Staub, immer wieder Staub, den man immer und immer wieder wegwischt, er kommt aber zurück, überzieht alles, bis man selbst durch und durch Staub geworden ist. Es gibt ein weibliches Schreiben, es gibt eine weibliche Bildlichkeit (und Virginia Woolf hat es nicht anders gemacht in ‚Mrs Dalloway‘ und anderswo); und Warner ist sich nicht zu fein für Haushaltsstaub. Was bleibt dem vom Staub der Nichtachtung, des Nicht-Ernstnehmens und des Nicht-Zuhörens überzogenen housewife anders – als eine Hexe zu werden? Ganz ohne Ressentiment, denn wir wissen, dass wir sonst bei der Geschichte Europas anfangen und bei den Designern von Modellküchen enden; ganz ohne großen plakativen Aufschrei, ohne Gesinnungsverpflichtung auf #metoo, ohne Gleichstellungsbeauftragte und Gendersternchen:


„But for the others, for so many, what can there be but witchcraft? That strikes them real. Even if other people still find them quite safe and usual, and go in poking with them, they know in their hearts how dangerous, how incalculable, how extraordinary they are … That’s why we become witches: to show our scorn of pretending life’s a safe business, so satisfy our passion for adventure. It’s not malice, or wickedness”.

Doch für die anderen, die vielen anderen, gibt es für sie etwas anderes als Hexerei? Das erscheint ihnen wirklich. Sogar wenn andere Leute sie noch ganz verlässlich und gewöhnlich finden und sie herum-stoßen, wissen sie in ihren Herzen, wie gefährlich, wie unkalkulierbar, wie außergewöhnlich sie sind. Darum werden wir Hexen: Um unsern Hohn dafür zu zeigen, dass das Leben angeblich eine sichere Angelegenheit ist, und so unsere Leidenschaft für das Abenteuer zu befriedigen. Es ist nicht Arglist oder Bosheit.


Und so findet der Teufel, der ein „loving huntsman“ ist und Seelen jagt; der es liebt, Seelen zu jagen; der liebende Seelen jagt – am Ende Lolly/Laura. Und Laura verliebt sich auf ihre indifferente, höchst bestimmte und sehr selbstsichere Art und Weise in den Jägersmann, über den sie so wenig in Begriffen wie Gut und Böse nachdenkt wie über alles andere:


„I don’t think I do think. I only rhapsodise and make comparisons. You’re beyond me, my thoughts fly off you like the centrifugal hypothesis. And after his I shall be more at a loss than ever, for I like you so much, I find you so kind and sympathetic”.

Ich denke nicht, dass ich denke. Ich sinne nur vor mich hin und stelle Vergleiche an. Du bist weit jenseits meiner, meine Gedanken fliegen an dir vorbei wie die Zentrifugalkraft an der Sonne. Und wenn das hier vorbei ist, werde ich noch ratloser als jemals sein, weil ich dich so sehr mag, dich so freundlich und sympathisch finde.


Wie verzweifelt muss man sein, um den Teufel sympathisch zu finden? Ach, man muss überhaupt nicht verzweifelt sein, frau muss ehrlich sein! Frau muss ein Gefühl dafür haben, was der Teufel zu bieten hat, jenseits der alten Schemen von Gut und Böse:

“To be this – a character truly integral, a perpetual flowering of power and cunning from an undivided will – is enough to constitute the charm and majesty of the Devil. … his mind brooded immovably over the landscape and over the natures of men, an unforget-ting and unchoosing mind. That, of course … was why he was the Devil, the enemy of souls. His memory was too long, too retentive; there was no appeasing its witness, no hoodwinking it with the present; and that was why at one stage of civilisation people said he was the embodiment of all evil, and then a little later on that he didn’t exist.”

So zu sein – eine wahrhaftig ganze Persönlichkeit zu sein, ein immerwährendes Blühen von Macht und Gerissenheit eines ungeteilten Willens – ist genug, um den Reiz und die Majestät des Teufels auszumachen. … Sein Geist brütet unbeweglich über der Landschaft und der menschlichen Natur, ein niemals vergessender und nicht wählender Geist. Deshalb, war er selbstverständlich der Teufel, der Todfeind der Seelen. Sein Gedächtnis war zu lang, zu klammernd; da half keine Beschwichtigung der Zeugen, keine Bestechung mit der Gegenwart; und deshalb sagten die Leute ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Zivilisation, dass er die Verkörperung alles Teuflischen war, und dann, ein wenig später nur, dass er nicht existiere.


Nur der Teufel kann es sich leisten, ganz er selbst zu sein, ohne Wahl und ohne Urteil; er ist immer „authentisch“ (aber das Wort kommt erst später zu seinem vollen Recht). Unversöhnlich und ohne Ressentiment. Das aber kann die zivilisierte Menschheit nicht ertragen: dass man ihr das Recht auf Indifferenz zugesteht. Dass man gefühllos sein kann und nicht unglücklich dabei. Dass das Sein allein genug ist (das friedlich benachbarte Sein von Teetasse auf einem Regalbrett, wenn es sein muss, aber auch das kommt erst später). Es muss weder durch die Reflexion eitel verdoppelt noch durch das Gefühl sentimental abgefedert werden. Nur beim Sein im Wald, nicht in der Stadt und nicht auf den banks of the Ohio allerdings findet man den „loving huntsman“, der Laura gleichgültig verfolgt, weil er ein Jäger ist. Sie aber hat ihm ihre Seele schon verschrieben. Er ist der Einzige, dem sie es erlaubt, sie zu besitzen, denn er ist ein besitzloser Liebhaber:

“So he would not disturb her. A closer darkness upon her slumber, a deeper voice in the murmuring leaves overhead – that would be all she would know of his undesiring and unjudging gaze, his satisfied but profoundly indifferent ownership.”

Er würde sie in Ruhe lassen. Eine dichtere Dunkelheit über ihrem Schlaf, eine tiefere Stimme im Murmeln der Blätter über ihr – das würde alles sein, was sie von seinem unbegehrlichen und nichtrichtenden Blick wissen würde, von seiner befriedigten, aber von Grund auf gleichgültigen Eigentümerschaft.


Mr Fortune’s Maggot - später

 

Und dann las ich, nach langer Pause, einen weiteren Roman, ihren zweiten nämlich. Er trägt den ebenfalls etwas befremdlichen Namen Mr Fortune’s Maggot, und der Titel erfordert dann auch gleich zu Beginn eine etymologische Erläuterung: „Maggot“ nämlich meint nicht etwa eine Made (aber man ist natürlich frei, beim Lesen die Made mitzudenken), sondern eine „mission of gentle satirical whimsy“ – eine Laune, eine typisch englische exzentrische Idee. Und die Laune von Mr. Fortune, der zu seinen irdischen Glücksgütern („comical colonial necessities“) allein ein Harmonium, eine Büchse mit Konservenfleisch und ein Teeservice zählt, ist es, die Eingeborenen von Fanua zu bekehren. Ein wahrhaft phantastisches und exzentrisches Unternehmen, wie von Anfang an betont wird, und ein komisches; aber auch ein von Anfang an von allen Seiten gleichmäßig gleich-gültig betriebenes. Denn die Bewohner von Fanua leben ein Elfenleben auf einer Südseeinsel. Sie haben keine Moral, keinen Besitz, nur schwache Familien- und rituelle Bande; sie leben wie die Kinder, immer fröhlich, singend und tanzend, eine kleine idyllische Kommune jenseits der Welt und damit – eine Utopie, wie noch jede Insel, die klein genug ist, um der Geschichte und dem Kolonialismus und der Art von Mission, die weder komisch noch whimsy ist, zu entkommen. Und es ist deshalb auch wichtig, dass Warner gleich zu Beginn die Geschichte erzählt, wie sie die Ge-schichte empfangen hat: im Traum nämlich, wo man alle Erleuchtungen erfährt, kam die Hauptgestalt zu ihr, er stand auf der Insel, und die Geschichte entwickelte sich von da an als eine Art ausformulierter Traumbericht, angereichert mit einigen Lektüreerfahrungen „echter“ Missionarsberichte.

Und bei der ganzen Lektüre verließ mich dieses traumartiges Gefühl nicht, weder bei den komischen, noch bei den tragischen Szenen. Es trug mich durch über das für Warner typische Fehlen einer eigentlichen Handlung sanft hinweg, die Zeit verfloss regelmäßig und unterschiedslos, das Wetter war immer sonnig wie das Gemüt der Insulaner, und allzu gern wäre man mit ihnen eingetaucht in das warme Meer, wann immer einem danach war. Zwischendurch verloren dann sowohl Mr. Fortune als auch sein Zögling Lueli (ein Name, der die deutsche Leserin so gemütlich schweizerisch anmutet, dass es den traumhaften Idyllencharakter zwar etwas alpin einfärbt, aber ansonsten verstärkt) ihren Gott; aber es machte nicht viel Unterschied, wie sich herausstellt, kann man sich nach einer Trauerphase auch einen neuen basteln. Gelegentlich werden die Schrecken des englischen Kolonialismus in einem Nebensatz erwähnt, aber ohne jeglichen moralischen Unterton; und sogar die Vertreter der missionarischen Amtskirche bleiben streng auf der komischen Seite.

Man könnte sogar meinen, der Text sei kein Liebesroman – was etwas so Seltenes ist in der großen weltliterarischen Literaturlandschaft ist, dass es allein schon hervorzuheben und zu loben ist; aber dann ist es doch einer, aber auf so eine kluge und verborgene Art und Weise, dass ich am Ende sogar meinte, etwas über diese elusive „Liebe“ gelernt zu haben dabei. Nämlich: Westliche, europäische Liebe ist ihrem Wesen nach immer missionarisch und besitzergreifend; sie will aus ihrem Gegenstand etwas machen, etwas Eigenes, etwas Wertvolleres, etwas – nach dem eigenen Bilde Geformtes. Sie ist es sogar, wenn sie maximal altruistisch und persönlich interesselos scheint wie die diejenige von Mr. Fortune; sie ist es gerade dann. Es gibt aber auch eine andere Liebe, nennen wir sie: die elfische Variante? Man hängt sein Herz an einen Gegenstand, man verehrt ihn, man schmückt ihn, jeden Tag, mit den schönsten Dingen, die man finden kann; aber man lässt ihm sein genuin anderes Sein. Er bleibt ein Idol, und man selbst bleibt ein Mensch. Wenn das Idol verloren geht, verschwindet, stirbt – ist das der Lauf der Dinge in der Natur. Man kann trauern wie ein Tier, und man kann sich umdrehen und weiterleben. Und es vergessen, das ist wichtig; es hat nichts mit Phrasen wie „er lebt in unseren Herzen weiter“ zu tun. Sein lassen; das ist die notwendige Voraussetzung für wahres Sein.

Und so wird Mr Fortune’s Maggot in meinem Kopf weiterleben und – nicht-weiterleben: eine traumhafte Erinnerung an einen auserzählten Traum, die verschwindet und immer blässer wird und am Ende nur noch die Überzeugung davon sein wird: dass ein solches Sein möglich ist. Man muss aber eine Insel dafür finden. Notfalls eine innere.


II. Weder eine Taube noch eine Seemöwe: Sylvia Townsend Warners Leben
(mit Virginia Woolf im Hintergrund)

Aber zurück zu Lolly Willowes. Dass ich bei der Lektüre dieses eigenartigen Nicht-Romans über eine Frau ohne Eigenschaften und ihre anderen Zustände, die sich den Teufel als gleichgültigen Liebhaber nimmt, so umstandslos ebenfalls dem Teufel verfiel – hatte sicherlich auch (aber nicht nur) mit den außergewöhnlichen Lektüreumständen zu tun. Während einer Chemotherapie ist man wenig zugänglich für die zuckrigen Versuchungen des positiven Denkens, und man würde ganz gern dem Teufel anheimfallen, wenn man dafür nur einmal ruhiger schlafen könnte in der Nacht oder für immer in den Wald laufen und sich in einer Mulde vergraben (notfalls kann man auch die Serie ‚Lucifer‘ anschauen, die den loving huntsman in die Stadt der Engel zum Jagen schickt und ziemlich lustig ist; aber den Schluss sollte man weglassen, er ist ein unverzeihlicher Rückfall in menschliche Sentimentalität und Parteilichkeit). Aber natürlich war ich auch der Autorin selbst ein wenig verfallen, weshalb ich hier jetzt ihre Geschichte einschiebe, auch wenn ich eigentlich als nächstes noch einen ihrer Romane las, der mir fast noch besser gefiel und der noch viel eigenartiger und unpersönlicher war.

Die Fakten sind schnell erzählt. Es war ein Leben, das sicherlich von den Zeitabständen gebeutelt war, aber auch seine Middlemarch-Momente hatte. Es spielte eine Zeitlang im London von Virginia Woolf, aber über weitere Strecken auf dem Lande von Jane Austen, und es hatte eine Menge Ambition und eine gleich-große Menge – Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolg. Geboren wurde Sylvia Townsend Warner knapp zehn Jahre später als Virginia Woolf, deren Ruhm sie nie ganz erreicht hat. Auch Warner war stark beeinflusst von ihrem Vater, einem Rektor auf dem Lande, gebildet und geschichtsbegeistert; die Mutter hatte ihre Kindheit im kolonialen Indien verbracht, was eine gewisse multikulturelle Färbung in die kleine Familie brachte. Sylvia war ein Einzelkind, sehr im Gegensatz zu Woolf, die lebenslang enge und/oder problematische Beziehungen zu ihren Geschwistern hatte; sie wurde teilweise zu Hause erzogen. Wenig ist überliefert über Jugend und Schulzeit, und wir begegnen der erwachsen werdenden Sylvia erst wieder, als sie den durchaus ambitionierten Vorsatz fasst, in Wien bei Arnold Schönberg Musik zu studieren. Offensichtlich musikalisch begabt und sehr gut ausgebildet, hat sie später bei musikhistorischen Projekten mitgearbeitet und dazu auch einiges Wissenschafliche veröffentlicht; und Leserinnen mit feineren, musikhistorisch geschulten Ohren mögen das in ihrer Sprache spüren. Was aber dazwischen kam, war der erste Weltkrieg, und Sylvia „did her bit“ (das war die offizielle englische Formulierung für „einen patriotischen Beitrag zum Kriegsgeschehen leisten, egal wie und wo“, mit typischem englischen Understatement) in einer Munitionsfabrik und bei der Flüchtlingsarbeit.

Nach Kriegsende trat sie für eine kurze Zeit in Kontakt mit dem Bloomsbury Circle. Ich würde mir gern vorstellen, dass sie auch Virginia Woolf dort traf, aber es wäre möglich, dass die beiden sich nichts zu sagen gehabt hätten zu dieser Zeit. Mit verwegener Phantasie könnte man sich sogar eine Liebesbeziehung aus-malen; denn beide liebten Frauen, und Warner trifft in dieser Zeit Valentine Ackland, mit der sie eine lebenslange Beziehung eingehen wird, die man wohl, obwohl sie von gelegentlichen Krisen und Eifersuchtsphasen erschüttert war, als gelungen be-zeichnen kann. Auch Ackland war Autorin, und gemeinsam veröffentlichten sie beide einen Gedichtband mit dem wunderbar gleichgültigen Titel Whether a Dove or a Seagull. Es spricht ganze Bände über die schlechte Gleichgültigkeit der Literaturwelt, dass das Buch nur noch antiquarisch zu erhalten ist und der Text des Titelgedichts im großen und weiten Internet nicht zu finden (was der Allesleserin immerhin Raum zum Phantasieren lässt, zumal sie es in den letzten Monaten mit Vögeln hat, diesen wunderbaren Wesen, die fliegen können und die Bäume von oben sehen und im Wald zuhause sind; und natürlich macht es einen großen Unterschied, ob man eine Taube ist oder eine Seemöwe, vor allem für die Taube und die Seemöwe, und die Allesleserin wäre vorläufig lieber die Seemöwe, die nicht nur den Wald, sondern das Meer von oben sehen kann und schrille Schreie ausstößt und immer schaut, als ob sie Emma hieße, und damit vorerst genug dieser flüchtigen Digression; wir kommen später auf die Vögel und die Gedichte zurück). Es kam aber keine Friedenstaube, es kam der zweite Weltkrieg, es kam das politische Engagement des Paares, wir streifen das nur im Durchflug; es kamen Alter und Krankheit, ließen sich wie Staub nieder, Valentine starb 1969 an Brustkrebs, und Sylvia schrieb noch weiter, bis zu ihrem Tod im Jahr 1978. Sie schrieb insgesamt sieben Romane, und jeder ist sehr anders als der vorige, und auf Mr. Fortune’s Maggot folgte The True Heart, und auf After the Death of Don Juan der Mittelalterroman, der mich als nächstes gefangennahm, trug und aufrichtete: The Corner that held them. Dazu kamen Gedichte, Erzählungen, Essays, eine Biographie. Die Zusammensetzung des Oeuvres gleicht wiederum der von Virginia Woolf bis in Details, bis auf das letzte bit, nämlich einem:


III. Zwischenspiel im Elfenreich: the blameless triangle

 In ihren letzten Lebensjahren arbeitete Warner noch an fantastischen Erzählungen, dem Kingdom of Elfins, in dem nun die Elfen den traumhaften Zustand der Indifferenz leben, für den sich Lolly Willowes noch dem Teufel verschreiben musste. Sie lassen sich sogar dazu herab, ihn mühsam in Worten zu erklären, und zwar am Beispiel eines „blameless triangle“:

 

„Moor attached the triangle to a bough of a wild cherry tree. It glittered in the morning sun. He said, ‘Observe it’, and they did so. After a pause, Moor con-tinued: ‘You will have observed that it has three sides, and that each side is of equal length. In other words, it is an equilateral triangle. What ideas spring to our mind? Equality. Therefore, serenity. Indiffeence to time and place. Again, serenity. Total reversi-bility. Whichever way up, it is always the same. Again, serenity. Indisputability. It cannot be confuted. Again, serenity. Positive abstraction. It is passionless, purposeless, involuntary, inexpressive. No blame can be attached to it. It exists by being itself; or, in philo-sophical terms, it is the Ding an sich. In a word, serenity’“.

Moor befestigte das Dreieck am Zweig eines wilden Kirschbaums. Es glitzerte in der Morgensonne. Er sagte: „Beobachtet es“, und das taten sie. Nach einer Pause fuhr Moor fort: „Ihr werdet beobachtet haben, dass es drei Seiten hat, und dass jede Seite von gleicher Länge ist. In anderen Worten: Es ist ein gleichseitiges Dreieck. Welche Ideen weckt das bei euch? Gleichheit. Deshalb: Ausgeglichenheit. Indifferenz gegenüber Raum und Zeit. Wiederum: Ausgeglichenheit. Unbestreitbarkeit. Es kann nicht widerlegt werden. Vollständige Umkehrbarkeit. Sichere Entrücktheit. Was immer oben ist, es bleibt sich gleich. Es ist leidenschaftslos, zwecklos, willenlos, ausdruckslos. Es kann für nichts verantwortlich gemacht werden. Es existiert in sich und für sich selbst; oder, philosophisch gesprochen, es ist ein „Ding an sich“. In einem Wort: Ausgeglichenheit.


In einem Wort: Langeweile? Teilnahmslosigkeit? Verantwortungslosigkeit? Nichts ist umstrittener als die Gleichgültigkeit. Wir werden noch ein wenig weiterlesen müssen, bis wir – ausgeglichener werden? Schuldloser? Reiner? In einer anderen Feen-Erzählung heißt es von einem, der ins Feenreich geraten ist:


„In his former life, he lived in a balancing act between obligations. He had an obligation to do such-and-such, he had no obligation to do the other. He performed the obligation; and the best he was likely to get out of it was the thought that it was done with, for the time being. He omitted the non-obligation; and was lucky to get off without a kick from his conscience. He had never conceived of the total release of not being an obligation himself. Day after day, month after month, went by und not once did he see a fairy’s face clouded with a look of obligation. … Their motives were as pure as the heavens“.

In seinem früheren Leben hatte er einen ständigen Balanceakt zwischen Verpflichtungen vollführen müssen. Er hatte eine Verpflichtung, dieses-und-jenes zu tun, er hatte keinerlei Verpflichtung, das Gegenteil davon zu tun. Er vollzog die Verpflichtung; und das Beste, was er davon haben konnte, war der Gedanke, dass es für diesmal erledigt war. Er ließ die Nicht-Verpflichtung aus; und hatte noch Glück, ohne Gewissensbisse davonzukommen. Er hatte niemals die völlige Befreiung erfahren, nicht selbst eine Verpflichtung zu sein. Tag für Tag, Monat für Monat gingen vorbei, und nicht ein einziges Mal hatte er einen Hauch von Verpflichtung das Gedicht eines Elfen verdunkeln sehen. Ihre Beweggründe waren so rein wie die Himmel.

Elfen sind keine Hausfrauen und keine Handelsmänner. Sie sind Elfen und Nicht-Elfen, sonst nichts. Wie wird man ein Elf und ein Nicht-Elf? Wie befreit man sich von allen Verpflichtungen, vor allem der: Man selbst zu sein und niemand anders (es gibt sowieso nur eine Verpflichtung, die gilt: die Selbstverpflichtung)? Wie wird man ein perfekt gleichseitiges Dreieck, das man drehen kann, wie man will, es bleibt immer es selbst und unendlich zu-frieden?


IV. Szenen aus einer bildungsbürgerlichen Familie: boiling eggs in Latin

Aber wissen wir jetzt wirklich mehr über Sylvia Townsend Warner, die Person hinter und in den Texten? Natürlich ist man bei der Erstlektüre geneigt, sie als Lolly Willowes zu imaginieren; beinahe jeder Autor, gerade die von Bedeutung, schreiben sich im Erstling ihre eigene Geschichte vom Leib, um danach Ruhe von ihr zu haben (man sehe Goethes Werther). Aber Lolly Willowes wäre nie auf die Idee gekommen, einen Roman zu schreiben, schon gar nicht ihren eigenen. Das aber wiederum hat sie wenigstens mit ihrer Schöpferin gemein, die auch keine ausführliche Autobiographie verfasst hat (wie Virginia Woolf, im Übrigen). Warner hat jedoch eine Reihe von autobiographischen Essays verfasst, die herbstschillernde Chrysanthemenblätter sind, jeder für sich; sie erschienen zu ihren Lebzeiten im New Yorker und nach ihrem Tod unter dem nicht unpassenden Titel Scenes of Childhood (ja, musikalisch inkliniertere Leserinnen mögen gern an Robert Schumanns ‚Kinderszenen‘ denken). Man kann wohl davon ausgehen, dass sie, wie alle vernünftigen autobiographischen Texte, eine wohlabgewogene Mischung von Dichtung und Wahrheit sind, und um ehrlich zu sein, will man auch meistens nur etwas über die Kindheit wissen; als Kinder sind wir bekanntlich alle originell, erst später werden wir Abziehbilder – unserer Verpflichtungen, unserer Rollen, unserer Selbstbilder, take your pick! Und es war, es ist ein Genuss, diese Kindheitsskizzen zu lesen. Sie sind geschrieben von einer reifen Autorin und ihrem großen, erwachsenen Autoren-Können, aber sie haben das Kind in sich offen-sichtlich nicht vergessen, es schaut immer noch mit den gleichen sachlich-altklugen Augen in die Welt und sieht kleine Dinge und große Dinge, nebeneinander und gleich-berechtigt, wie das Alte Testament und Großtante Salome. Über die eigenen Eltern findet sich dort ein Satz, der ein ganzes umständliches Persönlichkeitsprofil ersetzt, er heißt:


„My mother was infallible. My father made no such claim, but he had a fine assortment of irrefutable doubts”.

Meine Mutter war unfehlbar. Mein Vater erhob keine solche Ansprüche; aber er hatte eine exquisite Zusammenstellung von unwiderlegbaren Zweifeln.


Wie kann ein einziger Satz so gekonnt, so auf einen ironischen Kern eingekocht, das zweifelhafte Verhältnis von Wissen und Zweifeln ausdrücken? Man muss es einmal nachbuchstabieren, das zerstört zwar bekanntlich das Schillern des Mehrdeutigen, aber es gibt schließlich unterschiedliche Arten von Lesegenüssen. Die Mutter war unfehlbar – das kann man nur statuieren, Mütter sind auf die gleiche Art unfehlbar wie der Papst, nämlich: im Modus des alternativlos anerkannten Dogmas. Der Vater hingegen – ist ein wenig ein komplexerer Charakter, deshalb bekommt er zwei syntaktisch und semantisch luxuriöser ausgestattete Sätze. Zum ersten erhebt er keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit – womit gleichzeitig, im kurzen Rückblick, geklärt ist, dass Unfehlbarkeit immer ein Anspruch ist, den man erhebt – und als solcher zweifelhaft in Bezug auf seinen Wahrheitsstatus, oder auch nur: seine Richtigkeit. Dafür hat ihr Vater etwas vor-zuweisen, was vor dem inneren Leserinnen-Auge in Form einer wohlsortierten Schachtel englischer Toffees (Fudges?) sich entfaltet: Ausgesuchte Zweifel, von der feinsten Sorte, und deshalb: unwiderlegbar. Man verschluckt sich kurz an der ausgesuchten Praline und hustet etwas verwirrt hervor: Können Zweifel denn – unwiderlegbar sein? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst? Alle Kreter lügen, sagt die Kreterin. Alle Zweifel sind zweifellos unwiderlegbar, sagt der Zweifler. Daran hat man zu kauen, jaja, es bleibt auch immer etwas zwischen den Zähnen kleben.

Deshalb zwischendurch, zur Lese-Entspannung, zu einem kleinen Seitenblick in die (fiktive) Kindheit unserer Heldin und der schon angekündigten Frühstücksei-Anekdote. Die englische Kernfamilie – also: unfehlbare Mutter, zweifelnder Vater, bissiger Pudel, vorwitzige Tochter und dazu ein generischer ehemaliger Schüler des Vaters, no love story involved, obwohl beide wohl ungefähr in der Pubertät – macht sich auf in den typisch englischen Kurzurlaub an der seaside (die Geschichte heißt übrigens Fried Eggs are Mediterranean, was offensichtlich eine der unfehlbaren Wahrheiten der Mutter ist und so bizarr jeder Erfahrung widersprechend, dass es einfach urko-misch ist). Die englische Kernfamilie ist von bescheidenem Wohl-stand, immerhin ist der Vater Schulleiter einer Landschule, und hat deshalb auch bescheidene Mengen von Personal; das bleibt aber zuhause, weil die Mutter in diesem Jahr beschlossen hat, dass Kochen „the most succulent of human pleasures“ sei (das saftigste? fleischigste? nahrhafteste? ausgereifteste? – egal, man sehe eine von Wasser vollgesogene Sukkulente vor dem inneren Lese-Auge – aller menschlichen Vergnügungen). Weshalb sie es für diese Ferien – erstmals, wird insinuiert – selbst tun wird. Kaum in der Küche angekommen, fällt ihr Blick auf eine Sanduhr, die, aus welchen Gründen auch immer, die Versuchung des Selber-Kochens noch potenziert und geradezu nach dem perfekten Frühstücksei schreit, als erster Stufe selbsterzeugter fleischlich-nicht-fleischlicher Genüsse! Vorhang auf für den ersten Morgen, die Mutter gibt die Eier ins Wasser, lässt die Sanduhr nicht eine Sekunde aus den Augen, und präsentiert der erwartungsfrohen Familie – viel zu weich gekochte Eier (viel zu weiche gekochte Eier sind vielleicht eher mediterran, auf jeden Fall: nicht englisch). Nächster Morgen, zweiter Versuch, doppelte Sanduhr: Die Eier sind in ihrer Konsistenz „like hot marble“ (wie heißer Marmor). Starker Vertrauensverlust, man könnte geradezu sagen: unwiderlegbare Zweifel an der Sanduhr-Methode sind die Folge, dafür fällt der Mutter ein, sie habe irgendwo gelesen, dass die Leute früher – also: vor der allgemeinen Verfügbarkeit von Uhren oder auch nur Sanduhren auf dem Lande – die optimale Kochzeit der Eier anhand der Lesung eines Psalms bestimmt hätten. Es sei, genau gesagt, der 51. Psalm gewesen (kurze Einblendung des Bildungs-Frühstücks-Fernsehens: „Ein Psalm, David vorzusingen“, 21 Verse in der Länge, und im Wesentlichen ein großes Sünden-Lamento des Propheten Nathan, nachdem David Bath-Seba im Bade gesehen und nach ihr gelüstet und allerlei unzüchtige Gedanken gedacht hatte, mit aparten Details wie Reinwaschen mit Ysop, Errettung vor Blutschuld, dem Anpreisen eines geängsteten Geistes und eines zerschlagenen Herzens als Symbole der ultimativen Reue und einem geopferten Farren auf dem Altar am Ende; nein, niemand hat gesagt, dass das Alte Testament einfach zu verstehen oder familienfreundlich ist, auch nicht Großtante Salome, die sich auskannte damit). Das Experiment am nächsten Morgen wird durch einen klingelnden Postboten unterbrochen, der Pudel greift an, und die Kinder fallen geistesgegenwärtig auf die Knie, um das Ganze als Gott wohlgefällige Morgenlesung und nicht als frivoles Experiment mit Frühstückseiern darzustellen. Die Eier sind – nun, schon deutlich besser, aber genügen immer noch nicht den Perfektionsansprüchen der Mutter. Aber nun bewährt es sich, in einem bildungsnahen Haushalt zu sein, denn die Frage kommt auf, in welcher Sprache man denn wohl die Lesung vorzunehmen habe? Denn lange Zeit lang, also: in der Zeit, wo die Leute noch keine Uhren hatten, war die Bibel ja nicht etwa in der Volkssprache verbreitet, sondern vielmehr als Vulgata – so der korrekt verwendete Begriff, der lustigerweise völlig in die Irre führt: also in lateinischer Standardübersetzung. Und siehe da, der in sicherlich perfekt intoniertem Latein vorgetragene Psalm 51 der Vulgata – erzeugt das perfekte Frühstücksei! Und die Geschichte endet mit einer letzten Wendung der erzählerischen Sanduhr, die die Dinge gern vom Kopf auf die Füße stellt:


„Timed by the Vulgate, the eggs came out just as they should, and we went on boiling them in Latin until my mother found that she knew by nature when they were ready.”

Mittels der Vulgata bemessen, waren die Eier genauso, wie sie sein sollten, und wir kochten sie solange in Latein, bis meine Mutter herausfand, dass sie von Natur aus wusste, wann sie fertig waren.

(sie hatte es im Gefühl, mit Loriot zu sprechen). Wollte man mit dieser Familie Urlaub machen, sogar mit bissigem Pudel und den Kapriolen des Wetters an der englischen Kanalküste? Ich hätte es gewollt, ganz sicher; auch wenn ich wahrscheinlich nicht geistesgegenwärtig genug wesen wäre, beim Anblick des Postboten spontan auf die Knie zu fallen. Es wäre ein geradezu sukkulentes Vergnügen gewesen, und wir hätten auch noch die Luther-Übersetzung testen können!

 

Damit zurück zu ernsthaften Dingen, nämlich: der Kindheit und den damit verbundenen Wachstums- und Glaubenskrisen (Kindheit ist eine einzige Krise, und wer das leugnet, erinnert sich nicht mehr gut genug oder hat nie eine gehabt. Sie ist der Prozess, bei dem man seine Unschuld für immer verliert und dafür Verpflichtungen implantiert bekommt. Sehr schmerzhaft, nicht nur beim ersten Mal). Warner aber hat eine ganz besondere Kindheitserinnerung, sie ist nämlich mit einer uralten philosophischen Grundsatzdebatte verbunden (man spürt die Mittelalterkennerin oft durch, und da wir diesen gar nicht kleinen Zeit-raum in eine als „dunkel“ geschimpfte Schublade getan haben, detektiert man wahrscheinlich noch nicht einmal die Hälfte) und zudem: eine genuine Lese-Erinnerung.

„There is a period in one’s life – perhaps not longer than six months – when one lifes in two worlds at once, floating like thistledown from the bosom of Ar-istotele to the bosom of Plato, and effortlessly resolving the debate between the Realists and the Nominalists. It is the time when one has freshly learned to read. The world, till then a denominating aspect of the Thing, has suddenly become detached from it and is perceived as a glittering entity, transparent and unseizable as a jellyfish, yet able to create an independent world that is both more recondite and more instan-taneously convincing than the world we knew before”.

Es gibt einen Zeitraum im Leben – vielleicht nicht länger als sechs Monate -, in dem man in zwei Welten auf einmal leben kann, wie ein Distelbüschel zwischen dem Busen von Aristoteles und dem von Platon hin- und hertreibend, und dabei mühelos den Streit zwischen Realisten und Nominalisten auflöst. Es ist die Zeit, wenn man gerade Lesen gelernt hat. Die Welt, die bisher eine bezeichnende Erscheinungsform des Dings war, hat sich plötzlich davon losgelöst und wird nun als eine glitzernde Ganzheit wahrgenommen, durchsichtig und ungreifbar wie ei-ne Qualle; aber trotzdem fähig, eine unabhängige Welt zu erschaffen, die gleichzeitig tiefgründiger und unmittelbar überzeugender ist, als die Welt, die wir kannten.


Vielleicht ist es nur möglich, diese Sätze zu verstehen, wenn man ein ähnliches Erlebnis gehabt hat und vielleicht eine ganz winzige Erinnerung daran? Denn sonst muss man jetzt schnell wieder das Bildungsfernsehen einschalten und den Nominalismus-Realismus-Streit nachlesen; was das mit Platon und Aristoteles zu tun hat; und woher kommt eigentlich dieses „Ding“? Das ist aber alles Kopfkram, und man kann es sich aufschließen mit ein paar Bildungsfetzen. Die Distelbüsche hingegen – muss man vielleicht gesehen haben, wie der Wind sie schonungslos durch die Dünen treibt, sie haben keinen Willen und drehen sich doch und tanzen, als seien sie lebendige Dinge, es ist aber nur der erbarmungslose Wind, und niemals dürfen sie eine Pause machen. Oder die Quallen, die den Badeurlaub verpestet haben, als wir noch Kinder waren, Jahr für Jahr, unfassbare Wesen, bei deren Anblick es einem kribbelte vor lauter Qualligkeit (nicht, weil sie als Feuerquallen brennenden Ausschlag machen konnten, das sind nur mediterrane Feuerquallen; nein, weil ihre Gallertartigkeit und ihre schutzlose Durchsichtigkeit einfach intuitiv gruseln machte; man wäre ganz sicher gestorben, wenn man nur einmal aus Versehen auf eine getreten wäre).

„And afterwards, as if angered, the world of things reasserts itself, und one is the prey of ambition and covet, and wants admiration, and bronze dancing slippers, and an iron hoop instead of a wooden one. The word sinks back into the thing, or at best betakes itself to the printed page. The period when one lived in two worlds at once is over. Perhaps not longer than six months, I said. Whenever I try to recall it, I can-not retain I for as many minutes”.

Und danach behauptet sich die Welt der Dinge wieder, so als habe man sie verärgert, und man ist die Beute von Ehrgeiz und Begehren und will Bewunderung, bronzefarbene Tanzschuhe und einen eisernen Ring anstelle eines Holzreifens. Die Welt sinkt wieder zurück ins Ding, oder bestenfalls nimmt sie Zuflucht auf Druckseiten. Der Zeitraum, währenddessen man in zwei Welten auf einmal leben konnte, ist vorbei. Vielleicht nicht länger als sechs Monate, sagte ich. Sobald ich versuche, ihn wieder hervorzurufen, kann ich ihn kaum für so viele Minuten auf-rechterhalten.


Und wieder sind wir in Musils „anderem Zustand“ gelandet, Mystikerinnen kennen ihn und empfindsame Autoren wie Rilke, Joyce oder Virginia Woolf („moments of being“ heißen sie bei ihr, und das ist nicht etwa eine Tautologie: Man „ist“ eigentlich ziemlich selten). Das können Lebens- und Lesemomente sein, wir sind da nicht kritisch, eines fließt in das andere über wie in einer Sanduhr. Der Text, in dem die Distelbüsche und Quallen zwischen den Welten treiben, heißt übrigens Interval for Metaphysics, und was ein Intervall in der Musik ist, wissen das Bildungsfernsehen und der Wikipedia-Artikel. Es ist nicht nötig, das zu wissen, aber es ist schön, wenn man es weiß. Der Text vibriert dann gleich noch mehr.


V. Das moral THING beim Schreiben

Aber wir können nicht endlos Kindheits-Anekdoten erzählen oder Fußnoten zur Philosophiegeschichte hervorkramen. „Oh, how I long to give it learned footnotes, and references. There is such heart-less happiness in scholarship!” (Oh, wie ich mich danach sehne, gelehrte Fußnoten und Quellenangaben zu machen! Im Gelehrtentum ist solch herzlose Glückseligkeit), das schreibt Warner im Jahr 1973 in einem Brief, und das leitet zum einen über zu ihren Briefen und gibt zum anderen dem Gleich-Gültigkeits-Motiv einen neuen Unter-ton: „heartless happiness“, man würde ja so gern die wohlklingende Alliteration mit übersetzen, aber „Glück“ und „Herz“ haben im Deutschen leider einen anderen Anklang; vielleicht, und gar nicht so falsch: „gefühllose Glückseligkeit“? Briefe also, wenn die Autobiographie erschöpft ist und man immer noch nicht genug hat an der neuen Autorinnen-Freundin, stürzt man sich natürlich auf die Briefe (die ultimative Herausforderung ist Goethe. Er hat sein Leben lang Briefe geschrieben, meist mehrere am Tag, an Gott und die Welt, im Wortsinn; ziemlich früh hat er schon damit begonnen, sie zu diktieren, gelegentlich entschuldigt er sich mit der uns befremdlich klingen-den Formel, die eigene Hand „fördere nicht mehr“; im Englischen könnte man vielleicht sagen: „my hand doesn’t convey any more“, aber das fördert auch nicht besonders in diesem Falle). Briefe sind – nun, bei professionellen Autorinnen wohl genauso Dichtung und Wahrheit wie Kindheits- und sonstige Erinnerungen; aber dass es darauf nicht ankommt (Leben und Lesen und Sanduhren und so), sollte inzwischen klar sein. Deshalb nur einige Perlen anstelle der Quallen; Fund-stücke, die man in Kindheits-Muschelkästchen tut und gelegentlich herausholt und wiederliest, sie glänzen dann jeweils ein wenig anders. Zum Thema Schreiben beispielsweise, und wir werden wieder ein wenig Philosophie brauchen:

„And strictly between ourselves, out of earshot of all critics, all clerics, we can agree that moral sense is the THING. And how sternly one must apply it to one-self as one works, examining one’s own motives, mer-its, failings as much as one examines those of one’s subjects. And then to fill the sentence in the right di-rection, to fill a form, not merely pages, to know when to press the tempo, when to relax it…. (An Georg Painter, 19.12.1967);

Und, unter uns gesagt und außer Hörweite aller Rezensenten und aller Kirchenleute, können wir über-einstimmen, dass der moralische Sinn das DING ist. Und wie streng muss man ihn auf sich selbst bei der Arbeit anwenden, seine eigenen Beweggründe untersuchen, eigene Verdienste wie Fehler, genauso wie diejenigen der selbst erschaffenen Figuren. Und dann den Satz in die richtige Richtung führen, eine Form ausfüllen, nicht einfach Seiten füllen, zu wissen, wann man das Tempo beschleunigen muss, wann es zurücknehmen.


Nun ist Warner nichts weniger als moralinabhängig und empörungswütig, noch nicht einmal bei Herzensthemen wie dem Schreiben, dem Denken oder dem Tod; wir erinnern uns: „gefühl-lose Glückseligkeit“! Aber der hier zitierte moral sense ist eine Erfindung der englischen Philosophie der Aufklärung, und ohne in die Details zu gehen, kann man sagen: Man verstehe ihn so wörtlich wie möglich (ein Merksatz, der sich meistens bewährt, besonders beim Lesen von Literatur, s.o., Komplementarität und so). Der moral sense ist ein Sinn im Wortsinn, also etwas, das angeboren ist, das unsere Wahrnehmung ermöglicht und prägt, das in gewisser Weise auch unabhängig von unserem Denken und Meinen ist. Diejenigen, die daran glauben, dass ein spezifisch moralischer Grundsinn angeboren ist, glauben meistens an das Gute im Menschen, an den Fortschritt des Menschengeschlechts, den Sinn im Leben und in der Geschichte. Die anderen – lassen wir dazu einen an-deren Brief zu Wort kommen, er ist schon relativ früh geschrieben, in der Lolly-Phase ungefähr, und es geht hier um einen wirklichen Menschen und seine Welthaltung:


„His [Theo] despair of the universe is an intellectual thing, he knows there is nothing good, nothing true, nothing kind, that until he is dead he is at the mercy of life, and that at any moment from behind some im-passive mask we choose to call blessed, a blue sky, a primrose, a child, a nicely-fried egg, not death, will look out with its face of idiot despair, idiot cruelty” (an David Garnett, 14.4.1925);

Seine Verzweiflung über das Universum ist eine intellektuelle Angelegenheit, er weiß, dass es nichts Gutes, nichts Wahres, kein Wohlwollen gibt; er weiß, dass er bis zu seinem Tod der Gnade des Lebens ausgeliefert ist, und dass in jedem Moment hinter einer teilnahmslosen Maske, die wir gern selig nennen, den blauen Himmel, einer Schlüsselblume, einem Kind, einem gut gebratenem Ei, aber nicht: der Tod hervorschauen wird, mit seinem Antlitz voll blödsinniger Verzweiflung, blödsinniger Grausamkeit.


Man könnte sagen, dass auch der moral sense eine solche segens-reiche Maske ist. Aber wenn man eine Maske willentlich und mit Bewusstsein aufsetzt – beim Leben, beim Schreiben –, weiß man, was man tut (Kant nennt so etwas „Postulate“: Man muss, da man die Gültigkeit absoluter Moralgesetze nun leider niemals wird beweisen können, einfach so tun, als gäbe es sie, also sozusagen: die Moral-Maske aufsetzen, und dann danach handeln. Das ist Moral!). Man ist ganz freiwillig streng mit sich selbst, nicht nur mit ausgedachten Figuren oder anderen Leuten in völlig unvergleichbaren Situationen. So etwas darf jede (nur!) für sich selbst entscheiden und tun. Dass aber auch Schreiben in diesem Sinne eine moralische Angelegenheit ist, die strengen Maßstäben gehorcht, kann man nicht wissen, bis man selbst einmal versucht hat, eine selbstgewählte Form auszufüllen, die keine Kuchenform ist und nicht das per-fekte Ei produziert. Obwohl, come to think about it, das timing des Eierkochens durchaus an die Suche nach dem perfekten Satzrhythmus erinnern mag. Psalmen sind dabei nicht das schlechteste Vorbild. Was man jedoch nicht tun darf, und das wird leicht verwechselt: ein Prinzip daraus machen. Dogmen bauen. Eine Systemform erfinden und sie flugs über alles stülpen, sei es nun Qualle oder Perle oder Distelbüschel oder die europäische Geschichte:


„It is systems I hate. I am convinced that any system, once it is found to work, traps people into fear, idiocy and cruelty. It is the found to work which is the opera-tive” (an William Maxwell, 4.5.1973)

Es sind Systeme, die ich hasse. Ich bin überzeugt, dass jedes System, wenn es einmal funktioniert, Leute in Furcht, Dummheit und Grausamkeit verfängt. Es ist das „Funktionieren“, auf das es dabei ankommt.


Gesprochen in der schönsten Tradition englischer Common-Sense- oder auch: deutscher Populärphilosophie (wenig später erfand die deutsche Philosophie das Systemdenken. Es erzeugte Furcht, Dummheit und – intellektuelle – Grausamkeit). Vielleicht ist es auch ein wenig englisch gedacht, dass Warner so gern Bilder der Jagd benutzt; dass der Tod ein loving huntsman ist, wäre trotz des Freischützes wohl nicht so leicht in einen deutschen Kopf gekommen. Und am Ende schnappt die große Falle zu:


„What is mans’ chief end? Death, I would suppose, since we practice for it every night of our lives. … I was brought up to think it a sin wo waste bread, and I have lived all my life in a world that wastes life. When you hear the sudden surly bell, don’t, I beg you, be angry on my behalf. Remember all the nets that didn’t catch me, all the lies that didn’t trap me, all the tar-babies I didn’t get stuck in”.

Was ist der letzte Zweck des Menschen? Der Tod, würde ich annehmen, da wir in jeder Nacht unseres ganzen Lebens für ihn üben. … Ich wurde dazu er-zogen, dass es eine Sünde ist, Brot zu verschwenden, und ich habe mein ganzes Leben in einer Welt gelebt, die Leben verschwendet. Wenn du die Glocke auf einmal verdrießlich schlagen hörst, bitte sei nicht böse meinetwegen! Erinnere dich an alle Netze, die mich nicht gefangen haben, an alle Lügen, die mich nicht in die Falle gelockt haben, alle Zwickmühlen, in denen ich nicht steckengeblieben bin.

Das Leben ist Entkommen. Aber es wird verschwendet, gerade heute wieder in einem geradezu atemberaubenden Ausmaß (und von beiden Seiten, wohlgemerkt; die Leichen der Angreifer sind auch Leichen).


VI. The Corner that held them: Welt und Winkel


Und damit zurück von den realen Schlachtfeldern der Welt in den ungezähmten Wald, wo wir Lolly Willowes verlassen hatten, wie sie mit dem loving huntsman flirtet und nicht-flirtet, und zum zweiten Roman meiner Lektüre in Krisenzeiten mit dem passenden Titel The Corner That Held Them. Wahrscheinlich war es der Titel, der mich gleich für das Buch eingenommen hatte. Wenn man schmerzensreich in einer Sofa-Ecke liegt, ist die Vorstellung einer Ecke, die einem Halt bietet, ziemlich nahe-liegend. Müsste man den Titel ins Deutsche übersetzen, wäre man natürlich gleich wieder am Ende mit seinem Englisch: „Die Ecke, die sie gestützt hat“? Es ist auch kein Halt gebender Schlussstein, das wäre ein capstone. Ich weiß nicht, ob ich gleich auf Nietzsche gekommen bin, aber irgendwann hatte ich diese Assoziation zu einem Nietzsche-Zitat, das ich schon früh entdeckt und viel später erst halbwegs verstanden hatte; es geht so: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben“. Noch ein wenig härter als Warner, und spätestens mit dem Zarathustra war ja auch klar, dass Nietzsche seine Seele einem Teufel verschrieben hatte, den er mit offenen Armen in Empfang genommen hatte. „Winkel“, das ist ein guter Ansatz; „Der Winkel, der sie stützte? Schützte?“ Oder doch eher „Versteckte“? Denn der Titel ist, das macht gute Titel aus wie gute Bücher, mehrfach lesbar. Er beschreibt auf der ersten Ebene natürlich Oby, das mittelalterliche Kloster, dessen Geschichte und Nicht-Geschichte der Roman über mehrere Jahrhunderte hinweg erzählt; ein vergessener Winkel der Welt, auf einem Hügel umflossen von einem vergessenen Fluss namens Waxle, besiedelt von vergessenen Gestalten, ganz sicher jenseits der ‚Weltgeschichte‘. Aber gleichzeitig bietet die Vergessenheit in dunkeln und wechselvollen Zeiten (es gab kein Strom, es gab keine Heizung, es gab kein Fernsehen, es gab keine Verhütungsmittel, es gab keine Straßen, es gab keine Toiletten, es gab kein Ibuprofen, und man muss irgendwann aufhören, bevor man die ganze Nicht-Welt des Mittelalters aufgezählt hat, die man so leicht vergisst) auch: Deckung. Schutz, und die Aufzählung fange ich lieber gar nicht an, wovor Frauen im Mittelalter geschützt werden mussten. Frauenklöster waren Frauenhäuser, das ist sozial- und literaturgeschichtlich erwiesen, und man muss sogar als Frau der christlichen Kirche gerechtigkeitshalber manchmal dankbar sein. Aber Klöster waren natürlich auch Gefängnisse, und die Bräute Christi konnten nicht von einem Tag auf den anderen beschließen, jetzt mal ein gap year in Indonesien einzuschieben (es gab keine Straßen, es gab keine Autos, es gab keine Nachrichten, und woher hätte man mit Sicherheit wissen können, dass es jenseits der nächsten Bischofsstadt überhaupt noch eine Welt gibt?). The Corner That Held Them – aber ich entschloss mich, es in der positiven Variante als Schutz, nicht als Gefängnis, erst einmal gelten zu lassen, und warf mich in die Lektüre, eingeeckt mit dicken Decken auf meinem Sofa und dem kleinen Kindle in der Hand (es gab keine gedruckten Bücher, die Nonnen betrieben Buchmalerei, das war eine gute Geldquelle).

Das Buch beginnt mit einer seltsam lakonisch erzählten Liebesgeschichte – nein, einer Nicht-Liebesgeschichte; wie auch immer, der Szene am Ende einer Liebesnacht, als der Mann mit seinen Cousins zurückkommt und seine schöne junge Frau mit ihrem schönen jungen Liebhaber im Bett erwischt, und teilnahmslos schaut sie zu, wie ihr Liebhaber dahingemetztelt wird; früher oder später war das schließlich zu erwarten, und es war ein Wunder, dass der Mann sie verschonte, was er im Wesentlichen tat, weil sie so schön und teilnahmslos war. Die Szene führt inhaltlich ziemlich völlig in die Irre: Es ist die Einzige im ganzen dicken Buch, die einer Liebesszene sehr von weitem ähnlich sieht; eine der ganz wenigen, in der die Männer in der Mehrzahl sind und in der tatsächlich in kurzer Zeit etwas Entscheidendes passiert. Aber eigentlich ist sie nur die durchsichtige Folie für all das, was daraus und danach kommt (es wird auf Umwegen ein Kloster gegründet und besiedelt, Oby), und was in einem völlig gleichmäßigen Fluss indifferenten Erzählens präsentiert wird, der dahinplätschert wie der Waxle-Bach, der das Kloster umschließt, aber je nach Jahreszeit und Wetter seinen Lauf ein wenig ändert. Die Leserinnern werden genauso in diesen Zeitfluss geworfen wie die Nonnen, sobald sich die Klostertür für immer hinter ihnen schließt: Religiöse Pflichten setzen kleine Zeitmarkierungen des Gleichmaßes, draußen passiert die Pest, ein gelegentlicher Mord kommt vor, das Wetter ist meistens schlecht, Äbtissinnen werden gewählt und sterben und werden gewählt und sterben, und jemand findet einen Schmetterling – alles ist gleich wichtig und gleich unwichtig. Die Nonnen bekommen Namen, Dame Blanche und Dame Isabella und andere, aber sie ähneln sich alle ein wenig im Nonnenhabit. Eben noch waren sie jung und dachten, sie seien davongekommen, dann sind sie schon alt und hören nichts mehr und sehen nichts mehr und werden ein klein wenig dement, gelegentlich auch wahnsinnig; das fließt eines in das andere, und wer kann sein Leben schon steuern auf einem Bach, der ständig den Lauf ändert, mit nichts anderem ausgerüstet als einem schwachen Glauben und einem noch schwächeren Fleisch? Das kann man sogar vom Fluss lernen, auf den Dame Blanche schaut:


“Throughout her short sickly life she had accepted the idea of an early death; but now she thought that, after all, she would be sorry to exchange the ambiguity of this world for the certitude of the next. There is pleas-ure in watching the sophistries of mankind, his deci-sions made and unmade like the swirl of a mill-race, causation sweeping him forward from act to act while his reason dances on the surface of action like a pattern of foam. Yes, and the accumulations of human reason, she thought, the proofs we all assent to, the truths established beyond a shadow of doubt, these are like the stale crusts of foam that lie along the riverbank and look solid enough, till a cloudburst further up the valley sends down a force of water that breaks them up and sweeps them away”.

Während ihres kurzen kränklichen Lebens hatte sie die Vorstellung eines frühen Todes akzeptiert; aber jetzt dachte sie, dass es ihr doch leidtun würde, die Zweideutigkeit dieser Welt gegen die Gewissheit der nächsten einzutauschen. Es kann vergnüglich sein, die Sophistereien des Menschen zu beobachten; wie seine Entscheidungen getroffen und wieder verworfen werden wie im Wirbel eines Mühlgrabens, wie die Verknüpfung von Ursache und Wirkung ihn von Handlung zu Handlung mitreißt, während seine Vernunft auf der Oberfläche tanzt wie ein Schaummuster. Oh ja, und die Ansammlungen der menschlichen Vernunft, dachte sie, die Beweise, denen wir alle zustimmen, all diese ohne einen Schatten von Zweifel etablierten Wahrheiten, sie sind wie die schalen Schaumkrusten, die am Flussufer liegen und solide genug aussehen, bis ein Wolkenbruch oberhalb des Flusslaufs eine gewaltige Flut hinab-schickt, die sie zerbricht und hinwegschwemmt.


Eine im heutigen Sinne ausgebildete Individualität bekommen nur Männer in diesem Buch, und das ist nicht frauenfeindlich, sondern einfach durch und durch sachlich richtig: Nur Männer haben damals eine Ausbildung bekommen, nur Männer haben Berufe, sie bauen Kirchtürme oder nehmen den Nonnen die Beichte ab (denn jedes Frauenkloster braucht einen männlichen Priester, es gab, es gibt bis heute in der katholischen Kirche keine weiblichen Priester). Dafür sind Männer auch haltloser, ungeschickter, ihren Lüsten ausgelieferter als die Frauen. Sie finden selten eine schützen-de Ecke, sogar der Priester ist von Anfang an ein nicht-ordinierter Betrüger, aber das ändert, genau gesehen, überhaupt nichts: Der Handlungsfaden hängt angefangen da, wird einfach mitverstickt in den großen Vespermantel für den Bischof, an dem die Nonnen sticken, gemeinsam, mit ihren frierenden Händen im immer noch ungeheizten Kapitelraum. Und an ihrer Spitze thront die jeweilige Äbtissin, und man wird wohl keinen Roman der Weltliteratur finden, der eine derartig vielfältige und präzise, ich wäre sogar geneigt zu sagen: bis heute gültige Typologie von Managertypen aufzuweisen hat: Es gibt die Macherinnen und die Entscheidungsverweigerinnen, die Visionärinnen und die Verwalterinnen, die Versöhnerinnen und die Spalterinnen, die Lückenbüßerinnen und die Glückstreffer und alles zwielichtig dazwischen Schillerende. Und sie lösen einander ab mehr nach dem Gesetz des Zufalls als nach irgendeinem großen Plan, und was die eine baut, reißt die nächste ein, ob sie will oder nicht, denn das ist der Lauf der Zeit und des ungeregelten Baches. Kunst kommt vor, aber bleibt ein isoliertes Wunder, das man aus der Ferne anstaunen kann, wie den Kirchturm, der für kurze Zeit Oby krönt und aus dem Fluss des Vergessens hervor-hebt (natürlich stürzt er wieder ein); oder wie die seit neuestem mehrstimmig gewordene Kirchen-Musik, die Priester Ralph irgendwann zufällig entdeckt und die ihn nicht mehr loslässt. Liebe kommt, ich sagte es schon, nicht vor; gelegentlicher Sex ist Zwang, Notwendigkeit oder Ablenkung, und sogar die erwartete Vergewaltigung passiert eher nebenbei, kein Grund für Drama. Der Glauben ist kein Halt, sondern eine Gewohnheit; Gott ist eine Realität, wie der Teufel, mit beidem muss man leben, aber es hilft nichts besonders, wenn das Getreide wieder nicht wächst oder die neuen Novizinnen nicht genug Ausstattung mitbringen. Dafür gibt es jede menschliche Emotion, die es gibt in eingewinkelten Kleingruppen, in jeder Abschattung. Kleine Übel, daraus besteht das Leben im Winkel; große Gefühle sind für Romane, Weltgeschichte, Dinge, die anderswo stattfinden und von denen man höchstens Geschichten hört.

Geschichten jedoch sind die eigentliche Währung im Sozialleben des kleinen Kreises. Geschichten braucht man immer. Es müssen ja keine großen sein; große Geschichten neigen zum Einsturz, wie zu groß dimensionierte Kirchtürme. Gedanken hingegen – sind eher sparsam gesät; große Worte findet man genauso wenig wie große Charaktere, und man muss sehr aufpassen, dass einem die kleinen Perlen nicht entgehen im beruhigenden Plätschern des Baches: „Causation tunnels like a mole under the surface of free will.“ Die Kausalität gräbt ihre Tunnel wie ein Maulwurf unter der Oberfläche des freien Willens. Na gut, das war doch ein großer Gedanke mit einem zumindest mittelgroßen Wort: „Kausalität“, es trifft causation aber noch nicht einmal ganz, was mehr aktiv ist, kein totes Prinzip. Oder, noch schlimmer: „freier Wille“, ganz großes Wort, und wahrscheinlich eines, das den Nonnen von Oby nicht zur Verfügung stand; sie hätten auch nicht gewusst, was sie damit anfangen sollten (die Moderne betet es an, sie hat auch sonst wenig zum Anbeten übrig gelassen). Dass jedoch tiefe Gründe sich verdeckt durch das Buch ziehen, ihre Gänge graben in der Art des blinden Maulwurfs – und vielleicht nicht nur in der Lesewelt, sondern auch in der Lebenswelt: nun, das ist doch ein ganz ordentlicher Gedanke, den ein Philosoph auch noch nie so gedacht hat (so gedacht, in diesem Bild; Philosophen glauben nicht an Maulwürfe, sie erschlagen sie mit den Schaufeln des Begriffs und bleiben schön blind). Oder, wir denken kurz zurück an das gleichseitige Dreieck, das für professionell Religiöse ja durchaus einen Anklang geweckt haben könnte:


„The trinity is a boon to the designer. It gets over all the difficulties of antithesis – light and shade, man and woman, good and evil – which, however proper they may be in nature and philosophy, are monoto-nous in art. Dame Alicia… often paused to give thanks to the Godhead for having, somehow or other, outwitted the dualisms of the moralists and insinuated the idea of a threefold unity”.

Die Dreieinigkeit ist ein Segen für den Gestalter. Es hilft über all die Schwierigkeiten von Antithesen hinweg – Licht und Schaden, Mann und Frau, Gut und Böse –, die, so angemessen sie auch in Natur und Philosophie sein mögen, in der Kunst eintönig sind. Dame Alicia … hielt häufig inne, um der Gottheit da-für zu danken, dass sie, irgendwie, die Dualismen der Moralisten ausgetrickst hatte und die Idee einer dreifaltigen Einheit untergeschoben.

Dame Alicia ist eine der klügeren Äbtissinnen. Und ist es nicht bezeichnend und witzig, dass sie nicht dem einen christlichen Gott, GOD, dankt, sondern „the Godhead“? Und dass sie den Schöpfer als „designer“ denkt? (es gab noch kein Design, es gab kein Internet, es gab keine corporate identity, es gab keine Alessi-Wasserkessel). Und dass er all die Philosophen „outwitted“, indem er „insinuated“? Sind wir mit dem Godhead schon beim dritten Geschlecht, das uns untergeschoben wird von einer Autorin, die in ihrer Jugend zweifellos – jungenhaft aussieht, den kurzen Bubikopf stolz zur Zigarette tragend, mit der runden Intellektuellenbrille? Eines der wenigen überlieferten Fotos von Valentine Ackland zeigt ihre Lebensgefährtin im männlichen Reiterdress, mit Schlips und Gewehr (ein wenig denkt man an Nietzsche, „Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht“, aber das mag ein wenig sehr untertunnelt ge-dacht sein). Dazu noch ein Zitat aus Warners Briefen, es wirkt ziemlich prophetisch:


„The great civil war, Nancy, that will come and must come before the world can begin to grow up, will be fought on this terrain of man and woman, and we must storm and hold Cape Turk before we talk of so-cial justice” (an Nancy Cunard, 28.2.1944).

Der große Bürgerkrieg, der kommen wird und kommen muss, bevor die Welt erwachsen wird, wird auf dem Gelände von Mann und Frau ausgefochten werden, und wir müssen Cape Turk stürmen und halten, bevor wir von sozialer Gerechtigkeit reden.


Ok, ich habe nicht herausgefunden, wer oder was Cape Turk ist, obwohl ich wirklich einen schwarzen Gürtel im Googeln habe. Das wurmt mich maulwurfsmäßig. Eine Chiffre? Egal, bis dahin nehmen wir es als: Symbol des englischen weltumspannenden Imperialismus, die ultima thule der Emanzipation, eine Anspielung auf den Turk-Kaktus mit seinem roten männlichen Käpplein oder die Türken insgesamt mit ihrem unausrottbaren Pascha-Tum? Take your pick!

Aber zurück in die Ecke, wir haben das lange Mittelalter-Buch in langen Krankheitsstunden durchlaufen und kommen zu dem Schluss: Indifferenter kann man nicht erzählen. Ist das der Preis für den Schutz, den die Ecke bietet? Vielleicht, vielleicht. Und es will ja auch nicht allen gefallen. Zu Warners großen Vorzügen als geschulte Erzählerin gehört, dass sie auch im Blick auf das eigene Werk den moral sense nicht vergisst:


„But as I write my books in an attempt to please my-self I really cannot complain if they dot not also please reviewers“ (an Marchette Chute, 8.3.1949).

Aber da ich meine Bücher so zu schreiben versuche, dass sie mir selbst gefallen, kann ich mich wirklich nicht beschweren, wenn sie Rezensenten nicht gefallen.

Jede Autorin von Verstand hat eine ideale Leserin, und die Einzahl ist nicht sehr untertrieben. Sie ist nicht identisch mit ihr selbst, aber wahrscheinlich: ein sehr naheliegender Charakter, oder ein sehr anpassungsfähiger; und eine ebenfalls nicht ungeschulte Leserin (für die gibt es genug andere Bücher, und das ist nicht herablassend gemeint, sondern indifferent). Warner gehört auch nicht zu der Sorte Autorinnen, die ihren Werken hilfreiche Gebrauchsanweisungen mitgeben, am besten in Form ausformulierter Literaturtheorien oder poetischer Programme (wie es ausnahmsweise, geben wir es zu, Virginia Woolf getan hat; aber ist „A Room of One’s Own“ nicht so viel mehr als eine Programmschrift? Eröffnet es nicht eine Ecke, die etwas geräumiger und zeitgenössischer ausgestattet ist, aber einen gewissen Schutz bieten könnte – wenn man nicht auch noch depressiv gewesen wäre und deshalb in einen tieferen Fluss steigen musste?). Aber dafür –


VII. Perfectly good canons: ausgeschriebene mittelalterliche Musik

Dafür hat Warner hat über diesen Roman recht ausführlich kor-respondiert, nämlich mit Paul Nordoff – kein Autor, sondern ein Komponist und Musiktherapeut, der 1937 einen ihrer Romane, Mr. Fortune’s Maggot, in eine Oper verwandelt hatte; daraus ent-wickelte sich eine lebenslange Freundschaft und Korrespondenz. Erstmals erwähnt sie Corner in einem Brief aus dem April 1942:
„It is about fourteenth century England, almost all of the characters are professionally religious, nuns, or parsons, or bishops. I am interested to find how much I know about those people, there is practically no love in the book, and no religion, but a great deal of fi-nancial worry and ambition and loneliness and sensi-tivity to weather, with practically no sensibility to na-ture. If you have no sensibility to nature the rain seems much wetter, the cold much colder, etc. It is not in any way a historical novel, it hasn’t any thesis, and so far I am contendedly vague about the plot. But it is being very obliging in the way it presents itself to me as I write it, lots of good fortune about counter-subjects that turn out to be invertible or perfectly good canons, and so on”.
Es spielt im England des 14. Jahrhunderts, beinahe alle Figuren sind beruflich religiös, Nonnen, Pastoren oder Bischöfe. Es interessiert mich herauszufinden, wieviel ich über diese Leute weiß; es gibt so gut wie keine romantische Liebe in dem Buch und keine Re-ligion, aber eine ganze Menge Geldsorgen und Ehr-geiz und Einsamkeit und Wetterfühligkeit, trotz so gut wie keiner Empfindsamkeit für die Natur. Wenn man keinerlei sentimentale Empfindsamkeit für die Natur hat, scheint der Regen viel nasser und die Käl-te viel kälter zu sein. Es ist kein irgendwie histori-scher Roman, es hat keine Aussage, und bis jetzt bin ich ziemlich schwammig, was den Plot betrifft. Aber es ist sehr vielversprechend in der Art, wie es sich mir darbietet, während ich schreibe; eine Men-ge Glück mit kontrastierenden Themen, die sich als umkehrbar oder sehr anständige Kanons herausstel-len, und so weiter.
Hier kann man sogar als musikalische Laiin ein wenig sehen, wie musikalische und sprachliche Komposition ineinanderfließen, und wenn ich noch mehr Zeit und noch mehr Eckenbedürftig-keit hätte, würde ich wohl versuchen herauszufinden, wo die Kanons sind. Eine Vermutung, ziemlich naheliegend: beispiels-weise im ‚Mamillion‘, einem langen Versepos, in dem die Natur und die englische Landschaft die Hauptrolle spielen und Men-schen nur sehr geringe Nebenrollen besetzen dürfen, und das Priester Ralph eines Tages sich einhandelt, wo er doch eigentlich nur einen Jagdfalken kaufen wollte; am Ende hat er zwei und das ‚Mamillion‘ als Bonus dazu (und ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass auch in Virginia Woolfs ‚Orlando‘ ein Naturgedicht die heimliche Haupt-rolle spielt, es handelt von einer alten Eiche und wird am Ende unter eben einer solchen begraben? – Ende der Digression, die Stimmen des Kanons klingen ineinander aus, darüber schreien zwei Jagdfalken im einem etwas schrillen Kontrapunkt). Ralph liest das Mamillion, erst unwillig, dann bald fasziniert, und schließlich verwebt es sich so in sein Leben, dass er am Ende selbst – aber nehmen wir sein Ende nicht vorweg, sondern sehen ihm kurz dabei zu, wie er endlich erkennt, wie man lesen soll:
“It had taken him a long time to come to a full appre-ciation of the poem: a course of time during which the poem’s poet, that unfortunate Lord Brocton, had al-most faded from his mind. But while the poet waned the poem waxed, and now he knew it for what it was – one of the great epic poems of mankind, a poem that could wander through one generation to another, some-times pausing, like Mamillion himself, in a deep wood or some welcoming castle, but never abiding there, for its destiny was to wander everlastingly through the hearts of men. … How many times he must have sauntered through it without seeing its quality! – and at last came a reading which became a first reading, and he had been as much astounded as if he too had been smitten over the nose with a flower-ing branch”.
Er hatte lange gebraucht, bis er das Epos vollstän-dig würdigen konnte; eine Zeit, während der sein Dichter, dieser unglückliche Lord Brocton, fast in seinem Gedächtnis verblasst war. Aber während der Dichter schwand, wuchs das Gedicht an, und nun hatte er es als das erkannt, was es war – eines der großen Menschheits-Epen, ein Epos, das von einer Generation zur anderen wandern konnte; manchmal, wie Mamillion selbst, in einem tiefen Wald oder ei-ner gastfreundlichen Burg ausruhend, aber niemals dort verweilend, denn es war seine Bestimmung immerdar durch die Herzen der Menschen zu wan-dern. … Wie oft musste er es durchstreift haben, ohne seine Vorzüge zu gewahren! – doch schließlich kam ein Lesen, das ein ursprüngliches Lesen wurde, und er war so überrascht davon, als wenn ein blü-hender Zweig unerwartet seine Nase gestreift hätte.
So muss man lesen, durch den tiefen Wald streifend, immer wie-der, die blühenden Zweige nicht mit der Sichel oder mit dem Taschenmesser abhackend, sondern sich streifen, schlagen, mit-nehmen lassen! Aber natürlich muss der Text dafür auch so ge-schrieben sein: Er muss sich beim Schreiben seinen eigenen Weg gebahnt haben. Indem die Autorin beim Schreiben selbst erst herausfindet, worüber sie schreibt (man muss dafür aufgeben, etwas Bestimmtes schreiben zu wollen und „contendedly vague“ sein können). Natürlich werden die Leute nie aussterben, die meinen, dass Literatur eine Botschaft haben muss, relevant sein muss, und möglichst auch noch politisch korrekt (dieses ist eine Anitklimax!). Es möge sie geben müssen, es lässt mich gleichgültig, im schlechtesten möglichen Sinn des Wortes. Nicht für mich, diese Bücher. Gebt mir Geschichten ohne Botschaft, ohne Handlung, ja sogar ohne Empfindsamkeit für die Natur, wenn es sein muss (‚Lolly Willowes‘ ist zwar ein Hymnus auf die Natur – aber ohne jegliche Sentimentalität. Wälder sind nur in Deutschland romantisch)! Und ich musste wirklich sehr, sehr lachen, als ich zufällig diese Stelle fand:
„I read not long ago in a pious weekly that the sen-tence ‘In my father’s house are many mansions’ has been causing disquiet and confusion to modern read-ers, a state of things that a new translation of the gos-pels will redress by substituting for the word ‘man-sions’ some religious synonym for flat”.
Ich las vor kurzem in einer frommen Wochenschrift, dass der Satz „Im Hause meines Vaters sind viele Herrenhäuser“ Unruhe und Verwirrung bei zeitgenös-sischen Lesern verursacht hat; ein Zustand, dem ei-ne neue Bibelübersetzung abhelfen wird, indem sie das Wort „Herrenhaus“ durch ein religiöses Synonym für Wohnung ersetzt.
Leider ist das Zitat, wie die Übersetzung beweist, unübersetzbar, da „mansions“ im Englischen zwanglos die Assoziation zu einem mindestens mittelgroßen englischen Landsitz erweckt, aber gleichzeitig ganz indifferent „Wohnung“ bedeutet. Aber der Ge-danke scheint relativ universell zu sein: Man reinige nur die Sprache so, dass jeder Leser sich nichts – und damit auch nicht das Falsche – dabei denken kann, und schon wird die Welt ein besserer Ort (man beachte, wie unspezifisch „Ort“ ist!) sein. Nein, wird sie nicht. Sie wird ein sprachlich und gedanklich ärmerer Ort sein. Ein Zwei-Zimmer-Wohnraum aus dem Muster-Katalog. Not a Room of One’s Own!
Nachdem wir nun geklärt haben, worum es in Corner alles nicht geht: Worum geht es? Nächster Brief an Paul Nordoff, immerhin knapp vier Jahre später:
„My book, my long book. With luck I shall finish in this spring, revise it this summer. I still incline to call it People growing Old. It has no conversations and no pictures, it has no plot, and the characters are in-numberable and insignificant. I shall be very much astonished if any one likes it, personally I think it is fine. Anyway, it has a remarkable vitality, for it has persisted in getting written through an endless series of interruptions, distractions, and destructions, it has been as persistent as a damp patch in a house wall. It is like a damp patch in other ways, too: the same kind of patterning and coloring” (1946).
Mein Buch, mein langes Buch. Mit etwas Glück wer-de ich es im Frühjahr abschließen und im Sommer überarbeiten. Ich bin immer noch geneigt es „Leute beim Altwerden“ zu nennen. Es hat keine Unterhal-tungen und keine Bilder, es hat keine Handlung, und die Figuren sind unzählbar und unwichtig. Ich wäre sehr erstaunt, wenn es irgendjemand mögen würde, aber ich denke, es ist sehr gut geraten. Wie auch immer, es hat eine bemerkenswerte Vitalität, weil es trotz einer endlosen Reihe von Unterbrechungen, Ablenkungen und Zerstörungen darauf bestanden hat geschrieben zu werden; es war hartnäckig wie eine feuchte Stelle in einer Hauswand. Es ist auch auf andere Weise wie eine feuchte Stelle: die glei-che Art von Mustern und Farben.
Kein schmeichelhafter Vergleich, möchte man meinen. Aber es ist halt nicht besonders schön anzusehen, wenn Leute alt werden (wie wir alle), und doch muss man darüber schreiben. Und wenn es sonst keiner mag, die Autorin mag es, und sie ist es schließ-lich, die sich schon vier Jahre damit beschäftigt hat. Mit einem feuchten Schimmelfleck an der Wand, der hartnäckig und nicht totzukriegen ist und in vielen Farben schimmert, wenn auch in keinen schönen. Aber es hat Muster, wie alles Lebendige, sie sind nur – anders als die gewohnten, die Tapeten mit ihren groß-tuenden Ornamenten, die die feuchten Flecke nur verdecken, die charakteristischen Bilder in uncharakteristischen Häusern (wollte van Gogh wirklich an all diesen Wänden hängen?), die endlosen Unterhaltungen über vermeintlich wichtige Dinge, die aber (eines meiner Lieblingszitate von Terry Pratchett, um eine sehr tunnelartige Ver-bindung herzustellen) nur persönlich sind, nicht aber: wichtig. Un-zählbar, un-wichtig, un-geliebt (wie wir alle). Und als es fertig ist, das große fleckige Buch, was macht die Autorin mit ihrem un-trüglichen moral sense des gewissenhaften Autors? Sie überarbeitet es noch einmal gründlich:
„I thought that my novel was almost finished; then I went back to the beginning, and now I find I want to rewrite a great deal of it, perhaps the whole of it. Be-cause having spent so long on it and written it at such diverse times and under such distracting circumstances, though all the characters in it are solid and consistent, the lighting, so to speak, has an inconsistency, the shadows are sometimes to the east sometimes to the west of an incident, and it needs a long study as a whole to put such discrepancies right. One might al-most think that the material of a work of art has the awkward individual vitality of timber; and warps and changes its contour after it has been sawn and fit-ted and put together”.
Ich dachte, mein Roman wäre fast fertig; dann ging ich zum Anfang zurück, und jetzt entdecke ich, dass ich einen großen Teil davon umschreiben will, viel-leicht sogar alles. Weil ich so viel Zeit dafür ge-braucht habe und er zu so unterschiedlichen Zeiten und unter solch ablenkenden Umständen geschrie-ben wurde, ist die Beleuchtung sozusagen inkonsis-tent, obwohl alle Figuren darin solide und in sich stimmig sind; die Schatten eines Ereignisses neigen sich manchmal nach Osten statt nach Westen, und es braucht eine langwierige Untersuchung des Gan-zen, um solche Diskrepanzen zu beheben. Man könnte fast denken, dass das Material eines Kunst-werks die renitente individuelle Lebendigkeit ge-schnittenen Holzes hat; und sich verzieht und seine Umrisse verändert, noch nachdem es gesägt und montiert und zusammengesetzt wurde.
Das sind schon wieder eine ganze Reihe neuer Vergleiche. Von der Musikgeschichte geraten wir unversehens in die Kunstge-schichte, die sich mit Fragen der Beleuchtung und des Schatten-wurfes im Gemälde beschäftigt; und dazu noch in den Möbel-bau, wo sich Schränke mit der Zeit verziehen, Schubladen nicht mehr recht schließen und Stühle hinken, weil: Holz ein lebendi-ges Material ist und weil es dadurch, so steht es da, eine Indivi-dualität hat. Wie ein Kunstwerk. Weil es ein individueller Mensch geschaffen hat? Schon Goethe war der Meinung – und er sah sich ganz sicher nicht als „Moderner“, wie seine romanti-schen Zeitgenossen -, dass gerade seine späten, umfangreichen Erzählwerke (oder nun gar der Koloss des Faust II!, den er sicherheits-halber in der Schublade verschloss, bevor ihn jemand sprachlich oder inhaltlich sandstrahlen konnte), eigentlich Kollektivwerke seien; ein wenig ins Kraut geschossen und nicht mehr direkt schlank oder gar klassisch zu nennen, aber mit einer derartigen Ansammlung an Welt und Erfahrung und den buntesten Lektürefrüchten, dass sie nur ein Kollektivwesen erschaffen konnte (natürlich sind wir alle Kollektivwesen, nicht nur AutorInnen, und das kann eine gute Sache sein, und das kann eine schlechte Sache sein, und am Ende ist es, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: gleich-gültig). Irgendwann ist das, und so sah das auch Warner, ein schierer Effekt von Um-fang, denn es kommt manchmal durchaus auf die Größe an: Ir-gendwann schlägt Quanti- nämlich in Qualität um, es sind dann eben andere Qualitäten als die des Maßes oder der Kleinheit (hat mit Komplementarität zu tun, ist halt ein wahres Zauberwort, siehe oben!). Als Corner sich nun wirklich dem Ende nähert, schreibt sie einem anderen Korrespondenzpartner:
„It will be long – about 180.000 words I believe. It is also what one calls powerful. If dropped from a suitable height it would wipe out the state of Ver-mont” (an Ben Huebsch, 24.4.1946)”.
Es wird lang werden – ungefähr 180.000 Wörter. Es ist das, was man machtvoll nennt. Von einer hinrei-chenden Höhe hinabgeworfen, würde es das Bun-desland Saarbrücken auslöschen.
Irgendwann, das kann man auch im Kanonpart des Mamilion lernen, gewöhnt man sich beim Lesen an die Figuren, an die wiederkehrenden Krisen, an den ins Vergebliche wachsenden Kirchturm, an das ständig seine Ufer wechselnde Flüsslein Wax-le; man gewöhnt sich sogar an das feuchtkalte Wetter. Mehr noch, man zieht ein. Sucht sich seine Ecke, es gibt genug, und für eine Novizin mehr ist immer Platz (besser aber, sie bringt eine gute Lese-Ausstattung mit). The Corner That Held Them – ich gebe es zu, ich lese es gerade zum zweiten Mal, ein Wiedereinzug sozu-sagen nach einem Ausflug in die Welt; und ich entdecke immer noch neue Schönheiten in dieser so wenig schönen, komfortab-len, abgesicherten, abwechslungsreichen Ecke des Lese-Universums!


VIII. Sündenböcke und Hausfrauenlyrik: Gedichte können so lustig sein!

Und in einem noch versteckteren Winkel bin ich dann endlich auch an Warners Gedichte geraten; leider nicht an Whether a Dove or a Seagull, sondern auf mühsam antiquarischen Wegen an eine Auswahlausgabe mit dem nicht sehr sprechenden Titel Selected Poems. Auch in diese lyrischen sylvae muss man sich erst ein we-nig einlesen, wie in Warners Erzähltexten findet man mindestens genauso viele unbekannte englische Worte wie unbekannte Pflanzen auf einem wilden Waldboden. Aber dann hüpft man ein wenig durch den Band, Gedichte sind ja nicht unbedingt müh-sam der Reihe nach zu lesen, und dabei ringt man sich zu der Erkenntnis durch, dass diese Gedichte, gelegentlich, gar nicht so selten und total lyrik-untypisch: lustig sind! Nicht alle, aber viele (lustige Gedichte sind seltene Erden in der Literaturgeschichte; leider, leider, leider!). Als Verbindungspfad zwischen den beiden Wäl-dern, dem epischen und dem poetischen, findet man dabei auch ein Gedicht, es heißt Building in Stone, und seine letzte Strophe geht so:
Since by the steadfastness
Of his most mute creation man conjures
- Man, so soon hushed – the silence which endures
To bear in mind, and bless.
Denn durch die Beständigkeit
seiner sprachlosesten Schöpfung beschwört der Mensch
– der Mensch, so bald schon stillgestellt! – die beständige Stil-le,
um sie zu für sich zu erhalten und zu preisen.
Nein, ich bekomme es nicht hin mit den Reimen, was schade ist, weil natürlich der Mitklang von „conjures“ und „endures“ so uner-wartet ist, dass er allein schon witzig ist; und Gedichte sind so-wieso potenziert unübersetzbar ihrer Sprachbilder wegen: „to bear in mind“ assoziiert – zumindest für eine Frau? – eine Art Schwangerschaft, die im mageren „sich erhalten“ abgetrieben ist; „so soon hushed“ ist so schön sprachmalerisch, hush-hush, aber völ-lig unübersetzbar. Mühsam kann man gerade das gedankliche Skelett erhalten, das wie immer durchdacht und tragfähig ist: Architektur spricht gerade durch ihre Stille und Dauerhaftigkeit; sie beschwört eine Dauer, der der Mensch selbst in keiner Weise fähig ist, noch nicht mal die wirklich beständigen und teilweise ziemlich hartnäckig langlebigen Nonnen von Oby.
Aber vollständig fasziniert war ich als erstes vom Scapegoat; nicht nur, aber auch, weil es von einer überwältigenden Aktualität angesichts der neuesten (Welt-)kriege ist und dem Mythos vom „Großen Bösen“, von dem sie unweigerlich zehren müssen (auf dessen Kosten sich „die Guten“ aber selbst sanieren, moralische Kriegs-gewinnler allenthalben) in ein unerwartetes Wort-Bild übersetzt. Auch dieses Gedicht kommt gereimt, man spüre den hüpfenden Rhythmus beim Lesen im Bein und im Ohr, ein kleines lyrisches Springteufelchen, und war es nicht früher schon so, dass der Teufel ein loving huntsmen ist, der ganz allein durch die Wälder streift?
The Scapegoat
See the scapegoat, happy beast,
From every personal sin released,
And in the desert hidden apart,
Dancing with a careless heart.
“Lightly weigh the sins of other,”
See him skip! “Am I my brother’s
Keeper? O never, no, no, no!
Lightly come and lightly go!”
In the town from sin made free
Righteous men hold jubilee.
In the desert all alone
The scapegoat dances on and on.
Der Sündenbock
Seht den Sündenbock, glückliches Biest!
Von jeglicher eigenen Sünde befreit
hat er sich in der Wüste versteckt
und tanzt dort mit sorglosem Herz.
„Leicht wiegen die Sünden Anderer.“
Wie er hüpft! „Bin ich denn meines Bruders Hüter?
Nein, niemals, nie und dreimal Nein!
So leicht gewonnen wie zerronnen!“
In der sündenfreien Stadt
feiern die Rechtschaffenen derweil.
In der Wüste ganz allein
Tanzt und springt der Sündenbock.
Während mein Lesen solcherart aufgelockert weiter streifte, stieß ich auf ein weiteres Gedicht mit einem Titel, der meine Nase unerwartet zweig- und ein wenig schockhaft streifte: „Mankind is always the partisan of Prometheus“. Beim ersten Lesen fand ich das Gedicht sperrig, wie der Titel schon zu lang und sperrig ist; aber eine Zeile, eine wiederholte Zeile, setzte sich nicht nur mit ih-rem Wohlklang in meinem Ohr, sondern mit ihrem Tenor in meinem Herzen fest: „Yet was the bird punctual, patient, obedient“ (ja, schon wieder ein Vogel, meine Familie hat es, wie schon erwähnt, ge-rade mit den Vögeln, und ich sah viele verschieden große und unterschied-lich bunte Vögel vor meinem inneren Augen vorbeistreifen, gerade am vorletzten Wochenende hatten wir einen jagenden Seeadler gesehen, es war ein erhabener Moment im norddeutschen Flachland!) Aber die Fas-zination kam auch von der Dreireihung unspektakulärer Attribu-ten, die man Sekundärtugenden nennen könnte (ein altes Thema von mir), und natürlich, natürlich, natürlich, entwickelte sich wohl spontan eine gewisse Identifikation zwischen mir und dem tugendhaften Adler. Und nein, ich bin definitiv keine Prome-theus-Partisanin; ich hatte den großspurigen Jüngling schon im-mer für eine eher zweifelhafte Gestalt gehalten, vielleicht war das ja gar keine tolle Idee gewesen mit dem geklauten Feuer, und Menschen nach dem eigenen Bilde zu formen, hat sich auch gar nicht immer bewährt. Aber na gut, das mit dem von dem beleidigten Übervater Zeus geschickten Adler war schon fies, oder war es nicht eigentlich ein Geier, der täglich an der Leber pickte?  – aber da hatte ich schon weitergelesen, oberflächlich schlendernd, wie ich in diesem Moment noch gestimmt war, und war auf weitere Perlen gestoßen, zum weiblichen Schreiben und noch dazu lustig und wahr und schön:
Wish in Spring
To-day I wish I was a tree,
And not myself.
Confronting spring with a neat little row of poems
Like cups and saucers on a shelf.
For then I should have poems innumerable,
One kissing the other;
Authentic, perfect in shape and lovely variety,
And all of the same tireless green colour.
No one would think it unnatural
Or question my right;
All day I would wave them above the heads of the people,
And sing them to myself all night.
But as I am only a woman,
And not a tree,
With piteous human care I have made this poem,
And set it now on the shelf with the rest to be.
Frühlingswunsch
Heut wär‘ ich am liebsten ein Baum,
und nicht ich selbst.
Ich würde dem Frühling mit einer netten kleinen Reihe
von Gedichten entgegnen,
wie Tassen und Unterteller auf einem Regalbrett gereiht.
Denn dann hätte ich unzählige Gedichte,
von denen eines das andere küsst,
ganz es selbst, in makelloser Form und lieblicher Vielfalt.
Und alle von dem gleichen unermüdlichen Grün.
Niemand würde das für unnatürlich halten
oder mir das Recht dazu absprechen;
den ganzen Tag lang würde ich sie den Leuten
über die Köpfe wirbeln,
und die ganze Nacht lang würde ich sie mir vorsingen.
Aber da ich nur eine Frau bin,
und kein Baum,
habe ich mit erbarmungswürdiger menschlicher Sorgfalt
dieses eine Gedicht gemacht
und setze es jetzt aufs Regal, damit es mit den anderen ist.
Und noch ein Wunsch, den ich gut nachvollziehen konnte: Wenn es derzeit ein zweites Natur-Identifikations-Ding bei mir gibt (außer Himmel und Meer natürlich, die völlig außerhalb jeglicher Konkur-renz spielen), sind es Bäume mit ihrer unbestreitbaren und doch so unaufdringlichen Individualität; jeder für sich ein Wohnhaus verschiedener Dinge, ein bewegtes und bewegliches Kunstwerk, mit den Füssen in der Erde, mit dem Kopf im Himmel, mit un-erwarteten Gerüchen, und mit so sehnsuchtsvoll ausgreifenden Astarmen und unendlichen Verzweigungen, ach, man könnte noch so viel Schönes über Bäume sagen (sagte ich schon, dass das große Epos in Virginia Woolfs ‚Orlando‘ von einem alten Eichbaum han-delte, unter dem Orlando es dann auch vergrub? Dass auch Mamillion ein ziemlich wald- und baumnahes Werk ist?)! Ja, ziemlich oft wäre ich auch lieber ein Baum, und vor allem wäre ich lieber: nicht ich selbst („omnis determinatio est negatio“, der neue Lieblingsspruch mei-nes Sohns in unserer gemeinsamen Lieblingssprache, und so unendlicher Deutung fähig wie eine mittelgroße und mittelalte Eiche). Zwar sprießen bei mir die Gedichte nicht ganz so willig wie bei Warner, die offenbar in jeglicher beliebigen Situation (gern auch: einer haus-fraulichen) von Versen überfallen werden konnte; mir passiert das eigentlich nur mit Aphorismen beim Zähneputzen, es muss irgendeine direkte Verbindung zwischen kleinen kreisenden Be-wegungen im Mund und den vielen Assoziationszahnrädchen im Kopfe geben. Aber ich würde sie genauso aufreihen, auf einem meiner vielen Schnick-Schnack-Regale, neben und zwischen den Sammeltassen und den Elefanten aus aller Welt und den gesam-melten Vogelfedern und den friedlich zusammenlebenden Stoff-tieren, die mein Leben austapezieren. Ja, na gut, die makellose Form lässt gelegentlich zu wünschen übrig, aber authentisch!
Wobei, und das ist nun wieder ein Stolperstein, der uns in einen sehr tiefen Wald führt: „Authentic“ nämlich nicht direkt eines meiner Lieblingsworte ist. Zu modisch, zu moral-indiziert („Sei authentisch!“ ist ungefähr eine genauso sinnvolle Aufforderung wie „Sei spontan!“), zu sehr in aller Welt Plappermunde herabgekommen. Aber immerhin bin ich gestandene Wörterbuchautorin und grabe sehr gern in historischen Wortkisten, auch: Etymologie genannt (zweifelhafte Wissenschaft seit jeher, umso besser, jede Wissenschaft, die nicht auf Zweifel, sondern auf Gewissheit aus ist, muss einem verdächtig sein!). Und was finde ich in einschlägigen Lexika als erstes? Das muss wörtlich mitgeteilt werden:
„Griech. authéntēs (αὐθέντης) m. be-zeichnet in ältester Zeit den Mörder, genauer den Selbst- oder Verwandtenmörder, später den Herrn und Gebieter, aber auch den, der selbst eine Tat ver-übt, vollbringt, den Urheber einer Tat. … Das Zu-gehörigkeitsadjektiv griech. authentikós (αὐθεντικός) bedeutet seiner Bildung nach ‘zum Urheber (einer Tat) in Beziehung stehend’, daher (be-sonders von Schriften und Äußerungen) ‘original, zu-verlässig, maßgebend’. Spätlat. authenticus wird, wie das griech. Ursprungswort, zunächst vor allem auf Schriften und Schriftstücke bezogen (z. B. auf die ‘eigenhändige, urschriftliche’ Fassung im Gegensatz zur Kopie), erweitert dann aber seinen Anwendungs-bereich, so daß das Adjektiv im Mlat. sowohl ‘origi-nal, echt, zuverlässig’ als auch ‘anerkannt, rechtmä-ßig, verbindlich’ bedeutet“.
Am authentischsten sind Mörder, wer hätte das gedacht, und am allerauthentischsten sind Selbstmörder! Na gut, mehr echter und folgenreicher Urheber einer Tat kann man zweifelsfrei nicht sein. Der Mörder ist nah verwandt mit dem Herrscher, dem zweiten im antiken Authentizitäts-Ranking sozusagen, der seine Herr-schaft auch ziemlich unvermittelt und unverstellt ausüben konn-te und zweifellos der „Täter seiner Taten“ war; was uns, als Bei-spiel, zum Schiller‘schen Wallenstein bringt, der sagen kann: „Gehörst Du dir? Bist du dein eigener Gebieter, stehst frei da in der Welt wie ich, daß du der Täter deiner Taten könntest sein?“ „Der Täter dei-ner Taten“ – über die figura etymologica, diese wunderbare Selbs-treflexionsfigur, in der unterschiedliche auf einen Wortstamm gepflanzte Wortarten sich gegenseitig bespiegeln und dabei ver-wandeln, ist auch noch nicht genug gesagt, aber bleiben wir erst mal auf diesem Wortzweig und referieren: Authentisch ist, wer so frei ist, dass er Taten tun kann, die ausschließlich seine eige-nen sind. Das klingt total selbstverständlich, wenn nicht gar tau-tologisch, aber man erwäge: Wie oft sind wir nicht die Täter un-serer Taten? Von Kindheit an hat man uns gesagt, was wir tun sollen, dann tun wir es oder wir tun es aus Trotz nicht, aber es sind in beiden Fällen nicht unsere eigenen Taten, es sind Auf-tragstaten oder Trotztaten, sozusagen, von denen wir ein schwa-ches ausführendes Organ sind. Wann tun wir genau das, was wir tun wollen, ohne fremde Anordnung, ohne fremdes Vorbild, ganz allein und genau so, wie wir es tun wollen und können, in makelloser Form und lieblicher Vielfalt und von einem unermüd-lichen Grün, das (erlauben wir uns eine symbolische Lesart, vergessen dabei aber die realistische nicht!) die Farbe des immerwährenden Wachstums ist und niemals stirbt? Nun, vielleicht wenn wir ein Gedicht schrieben. Aber schon bei einer derart freigewählten und etwas exotischen Tätigkeit haben wir so viele internalisierte Vorbilder und Regeln und festgeprägte Wendungen („Herz“ reime sich auf „Schmerz“, reimlose Wörter kommen nicht vor: zum Beispiel „Kunst“, seit es sich nicht mehr auf „Gunst“ reimen darf, jedenfalls; Mensch, ganz sicher völlig reimlos; „Nichts“, na gut, „Wichts“, aber wo soll das bitte hinführen?), dass es meist doch eher ein bunter Fli-ckerlteppich des Un-Authentischen wird. Bei mir klingt meist ein wenig Rilke hervor, dort goethelt es, und wenn ich zu viel Wein getrunken habe, kann ich sogar ein wenig hölderlinsch. Wenn ich jetzt ein Gedicht schreiben würde, wäre es wohl Warnerisch ein-getränkt; aber man kann halt nicht immer authentisch sein inmit-ten einer Welt, die jeder Authentizität durch Mode verspricht. Außerdem geht es den Leuten auf die Nerven, wenn man wirk-lich mal authentisch ist, und deshalb schreibe ich auch nur ganz selten Gedichte und verstecke sie sorgfältig auf inneren Regalen und schwenke sie nie triumphal über die Köpfe anderer Leute (Ende der Authentizitäts-Abschweifung!)
Aber mit den beiden letzten Zeilen bin ich dann wieder ganz bei Warner, die mit „piteous human care“ – mit unendlichen Mühen, mit der liebenden Sorgfalt der schreibenden Frau, mit der erbar-mungswürdigen menschlichen Begrenztheit im Umgang mit der grenzenlosen Sprache – ein einziges, kleines Gedicht gemacht hat, es hat keine großen Worte (sieht man einmal von „authentisch“ ab, aber wir haben von der teuflischen Etymologie gelernt, dass das ein Verräter ist); doch am Ende kommt es zu seinesgleichen, damit es – sein möge. Nicht mehr allein sein, nur sein.
In diesem Sinne noch ein Hausfrauenlied, man könnte es auch ‚Abendgebet einer Hausfrau‘ nennen:
Woman’s Song
Kind kettle on my hearth,
Whisper to avert God’s wrath,
Scoured table, pray for me.
Jam and pickle and conserve.
Cloistered summers, named and numbered,
Me from going bad preserve,
Pray for me.
Wrung dishcloth on the line
Sweeten to those nostrils fine,
Patched apron, pray for me.
Calm linen in the press,
Far-reaped meadows, ranged and fellowed,
Clothe the hour of my distress;
Pray for me.
True water from the tap
Overflow the mind’s mishap.
Brown tea-pot, pray for me.
Glass and clay and porcelain,
Earth arisen to flower a kitchen,
Pray for me.
All things wonted, fleeting, fixed,
Stand me and myself betwixt,
Sister my mortality.
By you transcience still renewed,
But more meek than mine and speechless,
In eternity’s solitude,
Pray for me.
Lied einer Frau
Lieber Kessel auf meinem Herd,
besäusele den Zorn Gottes!
Gescheuerter Tisch, bete für mich!
Marmelade, Eingemachtes,
konservierte Sommerklöster, gut beschriftet und gezählt,
betet für mich!
Ausgewrungenes Geschirrtuch auf der Wäscheleine,
umschmeichle Gottes feine Nasenflügel,
geflickte Schürze, bete für mich!
Stilles Leinen in der Bügelpresse,
weite gemähte Wiesen, geordnet und befreundet,
bedeckt die Stunde meiner Not;
betet für mich.
Wasser der Wahrheit aus dem Hahn,
spüle die Missgeschicke des Geistes hinweg.
Brauner Teekessel, bete für mich.
Glas und Ton und Porzellan,
Erde, auferstanden zum Blumenschmuck einer Küche,
bete für mich.
All ihr Dinge, alltäglich, flüchtig, geflickt,
stellt euch zwischen mich und mein Selbst,
verschwistert meine Sterblichkeit.
Mit eurer verneuten Vergänglichkeit,
die sanftmütiger ist als meine, und sprachlos,
einsam in alle Ewigkeit:
Betet für mich.
Das war eine ziemliche Herausforderung fürs Übersetzen; im wesentlich, weil es so down to earth ist, so viele Haushaltsspezi-alworte hat. Man muss ein wenig einen englischen Haushalt auf dem Land vor sich sehen, wo der alte braune Teekessel immer auf dem Herd steht, die Wäsche immer im frischen Seewind weht, der Holztisch täglich gescheuert werden muss und das Einmachen nicht ein Corona-Hobby verzweifelter Städter, son-dern eine Lebensnotwendigkeit zur Verbesserung der Haushalts-situation ist. Dazu dann Sprachbilder, die ausnahmsweise einmal von einer beinahe avantgardistisch anmutenden Gewagtheit sind: „Cloistered summers“ werden die Einmachgläser genannt, in denen der Sommer so verwahrt wird, wie in einem stillen Kreuz-gang oder einer einfachen Zelle die Seelen der Nonnen, in Oby und anderswo. Der schwache Geruch des Sommers, der etwas überzuckerte Geschmack der Beeren, das Sirupartige der Ein-machflüssigkeit – es ist nicht das Paradies, es ist ein eingemach-ter Garten Eden im Keller der Landfrau, ihr Stolz und ihre Jah-resbilanz. Und wer flickt noch Schürzen? Wer zieht blütenweiße, mit eigenhändigen Spitzen umhäkelte Tischtücher für große Ge-sellschaften durch die Bügelpresse? Nun, meine Schwiegermutter tut das, die auch ihr Einmachkloster hat im Keller und sehr alte Wasserkessel und gemähte Wiesen bis zum flachen Horizont. Und ich bin dankbar für jeden Tag, an dem es sie noch gibt, denn wenn sie stirbt, wird eine ganze Generation aussterben und die Sommerklöster werden verrotten und durch Convenience Food ersetzt werden. Das alles fließt in der letzten Strophe zusammen, die oberflächlich wie eine Art kleine Moral aussehen mag (sie ist aber nur „meek“, und ich mag das Wort sehr!), aber eigentlich eine Liebeserklärung an die vergänglichen – „verneut“ habe ich das genannt, und bin sehr stolz auf diesen Neologismus! – einfachen Dinge des Lebens ist, wie sie Rilke so oft beschworen hat (er war aber ein Mann und benutzte andere Dinge; bei aller Offenheit wäre ihm kein Bügelbrett in ein Gedicht geraten, aber immerhin gibt es Bälle und Türschwellen und Äpfel). Aber ich kann das verstehen, bilde ich mir ein. Dinge, das habe ich schon als Kind gelernt, sind das einzige, auf das man sich halbwegs verlassen kann. Leute lassen einem nur im Stich: Leute sterben, sind böse, lügen, lachen falsch, lo-ben falsch, schimpfen falsch und sind überhaupt so un-authentisch, dass es jedes halbwache Kind nur gruseln kann. Ein Ding mag altern, ein wenig kaputtgehen, an Farbe und Glanz verlieren; aber es hat auch seine eigene Schönheit, seinen au-thentischen Gebrauchszweck, und man fühlt sich gut, wenn man es benutzt, und man fühlt sich gut, wenn man es repariert, und wenn es schön ist, fühlt man sich gut, wenn man es nur ansieht (weshalb man sich mit schönen Dingen umgeben sollte, es reicht aber eine ganz kleine Schönheit, meek, meek!). Und dass sie nicht reden können – nun ja, das spricht schon ziemlich für die Dinge. Sie können ja etwas zeigen, und zwar so, dass es die meisten verstehen. Und dass es das klare, das wahre Wasser aus dem Wasserhahn ist, mit dem die Miss- oder Ungeschicke des Geistes einfach weggespült werden können – ach, wäre es nicht wirklich schön! Jeden Abend stünde man da und ließe einfach alles in die blankge-scheuerte Spüle fallen, was der Kopf sich wieder zu zusammen-gedacht und gehört und gelesen hat und was er nun wieder nicht un-denken kann – außer man kippte es einfach aus, und dann ließe man viel, viel, klares wahres Wasser darüber laufen, bis es alles weg ist, noch nicht mal Spüli brauchte man dafür, es waren ja sowieso alles gezähmte und gewaschene Halb-Gedanken!


IX. Adlergedanken: „Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam!“

Dann bliebe allerdings noch die Frage, warum der Zorn Gottes eigentlich die ganze Zeit besäuselt und besänftigt oder um-schmeichelt werden muss? Ach, Gott. Man kann sich ja auch was Anderes dabei denken. Es gibt genug Zorn in der Welt für uns alle. „Yet was the bird punctual, patient, obedient”! Und damit Rückkehr zu Prometheus, der Nicht-Frau, dem Nicht-Weib, dem Nicht-Alltäglichen, dem Verräter des göttlichen Vertrauens. Denn spätestens an dieser Stelle zog es mich unwiderstehlich wieder zurück zu dem Gedicht, das diese Zeile als Haken aus-geworfen hat, zusammen mit dem sperrigen Titel; und hier kommt es nun ganz:
Mankind is always the partisan of Prometheus
Mankind is always the partisan of Prometheus.
The God’s bird, and even the God himself
Are by mere justice and victory disgraced.
Yet was the bird punctual, patient, obedient.
And the God, God. Why is it unforgivable
To be with all humility in the right?
Whence came this radiance gilding the downward
Pinions of Lucifer, and on the rebel’s
Countenance this beauty of unholiness?
Oh no, not only the genius of Aeschylus?
Rather, man’s heart having lost original grace
Becomes a hostel to all lost causes, cares not –
So they be lost – whether good or evil.
Yet was the bird punctual, patient, obedient…
Twice I have dreamed, and twice I have been an eagle.
Happy was the first dream
For I was the brass eagle in the church.
My static wings quivered beneath the Word.
My feet were planted in a cluster of lilies,
The organ played, and the school-children sang.
Vast was the word of God, but I sustained it.
I was forever meek, strong and durable,
And shone like gold before the congregation.
But in my second dream I was the bird of Zeus.
The air breasted my breast, surged through my wings,
Bubbled and seethed about me, and streamed on,
While far beneath the range of Caucasus
Lay small und clean as pebbles in a brook.
With here an agate-vein of a crevasse
And here an forest like a water-weed.
I had no care, no animus, I poised
Calm as my shadow floating on the abyss
Set like a seal upon the writ of God.
So In an endless morning I was poised,
So on a blameless errand I was aimed,
So was the bird punctual, patient, obedient.
Die Menschheit schlägt sich immer auf die Seite
von Prometheus
Die Menschheit schlägt sich immer auf die Seite von Prome-theus.
Der Vogel Gottes, und sogar der Gott selbst fallen
allein ihrer Rechtlichkeit und ihres Sieges wegen in Ungnade.
Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.
Und Gott war Gott. Warum ist es denn unverzeihlich,
im Recht zu sein, mit aller Demut?
Wann wurden die gesenkten Flügelspitzen Luzifers
mit Strahlen umkleidet, und das Angesicht
des Rebellen mit der Schönheit des Schrecklichen?
(Oh nein, nicht nur das Genie von Aeschylos!)
Vielmehr: Das Herz des Menschen, einmal gefallen aus der Gnade seines Ursprungs, wurde die Zuflucht aller aussichtslo-sen Fälle,
kehrte sich nicht daran, ob gut, ob böse. Hauptsache verloren!
Doch war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.
Zweimal habe ich geträumt, und zweimal war ich ein Adler.
Froh war der erste Traum,
denn ich war der Bronzeadler in einer Kirche.
Meine starren Flügel erbebten unter dem Gotteswort.
Meine Krallen hatten in Lilien Wurzeln geschlagen,
die Orgel spielte, Schulkinder sangen.
Gewaltig war Gottes Wort, aber ich unterstützte es.
Ich war sanftmütig, stark und ausdauernd, immerdar,
und strahlte wie Gold vor der Gemeinde.
Doch im zweiten Traum war ich der Vogel von Zeus.
Die Luft brandete gegen meine Brust, durchströmte meine Flügel,
schäumte und brodelte um mich her und strömte weiter.
Weit unter mir lagen die Höhen des Kaukasus
winzig und blankgespült wie Kiesel in einem Bach,
mit den Achat-Adern der Gletscherspalten da
und dort einem Wald wie aus wiegendem Seegras.
Ich spürte keine Zuneigung, keine Abneigung, ich schwebte
gelassen wie mein Schatten über der Kluft,
ein Siegel, gesetzt auf das Urteil Gottes.
So war ich an einem endlosen Morgen bereitet,
so war ich zu makelloser Mission bestimmt,
so war der Vogel nur gerecht, geduldig und gehorsam.
Daran habe ich lange gearbeitet, und ich bin ein klein wenig zu-frieden damit. Eigentlich würde ich es mir sogar gern auf eine Fahne schreiben und den Leuten über die Köpfe schwenken, in keinerlei Nationalfarbe dieser Welt. Nicht nur weil ich Adler mag und Parteilichkeit hasse, vor allem in Parteien und ihren Hilfssklaven in den öffentlichen Medien! Nicht nur, weil ich zwar ein Fan von ‚Lucifer‘ (der Serie und des advocatus diaboli im Besonderen) bin, aber gerade keinerlei Herz für aussichtslose Fälle habe – ausgenommen bei Tieren oder Kindern, wo man gerade noch in einem gewissen Sinne von „unschuldigen Opfern“ reden kann –, sondern ein stark ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit, Verdienst, Gehorsam und allgemein geringgeschätzte Sekundär-tugenden! Nicht nur, weil ich die göttliche Frechheit der Autorin bewundere, einfach Aeschylos herbeizitieren, um ihn dann gleich wieder von der Bildfläche zu kehren! (Die Handlung der Tragödie ist kompliziert, man weiß noch nicht einmal genau, ob sie von Aeschylos ist, aber wichtig ist eigentlich nur: die Literatur kann alles rechtfertigen und den Menschen manipulieren ohne Ende; aber es war nicht nur die Litera-tur, die Prometheus rehabilitierte, sondern die ewige menschliche Schwä-che, die ihren besten Ausdruck in der Allerwelts-Entschuldigungs-Formel „only human!“ findet, ungeachtet dessen, dass im nächsten Satz meist die Menschheit als Krone der Schöpfung beschworen wird! Heilige kognitive Dissonanz, die viel zu wenig Altäre hat! nein, genug, nicht gleich-gültig genug!) Nicht nur schließlich, weil ich vor allem die Szenerie des zweiten Traumes so wunderbar finde: Wie aus dem Flugzeug schaut man herab auf eine ferne Welt, und mit jedem Schlag der gewaltigen Flügel durchkämpft man die Luft, und meine Lieb-lingsübung beim Qi-Gong ist definitiv der Adler! Sondern vor allem, weil ich das gelassene Schweben über den Abgründen ohne jede Abstriche als die definitive Lebensphilosophie über-haupt beschreiben würde: Abgründe gibt es überall, kleine und große, innen und außen, sie sind allgegenwärtig wie der Zorn Gottes, und statt sich auf eine Seite zu schlagen, sollte man ge-lassen darüber schweben, auch wenn, wie wir seit Lolly Willowes wissen und von den Nonnen in Oby gelernt haben:  der Preis der Gleich-Gültigkeit die Bekanntschaft mit dem Teufel sein mag! Und wie subtil zwingt einen das Alternativ-Szenario des Ge-dichts eine Schein-Wahl zwischen Schein-Alternativen auf: Wäre man denn selbst nun lieber der goldene Adler in der Kirche oder der schwebende Adler über den Abgründen? Denn es ist auch ein Abgrund zwischen den beiden Adlern, ein tiefer; es ist der zwischen der christlichen Religion des einen Gottes und der my-thologischen Religion des Götterhimmels. Oder, anders gewen-det: zwischen der Sanftmut Christi und der Indifferenz von Zeus, zwischen der Stabilität der einen Kirche, dem Felsen des Glaubens, und dem Schweben über den Abgründen des Schick-sals; zwischen dem Goldenen Licht und dem dunklen Schatten. Aber: Warum muss man denn ein- für allemal wählen? Kann man nicht beides sein? Muss man denn immer und immer wieder zum Parteigänger werden? Zwei Adler wohnen, ach, in meiner Brust!


X. Das Sterben starker Frauen, oder: Gloriana dying


Nun ist das Prometheus-Gedicht ein ziemlich männliches Ge-dicht, in Thema und Tonfall und Bildlichkeit; was es keinesfalls schlechter macht, oh nein, das ist das grundlegende feministische Missverständnis aller Zeiten, geboren aus schierer Not und ver-ständlichem Trotz und Verwundung, aber dann doch allzu oft vermischt mit dem Ressentiment (interessantes Wort im Übrigen, aber diesmal verbieten wir uns die sich anbietende Abschweifung) der Nicht-zu-Wort-Gekommenen. Nein, männliche Gedichte sind ok, und weibliche Gedichte sind ok, und alles dazwischen auch; Hauptsache, das Gedicht spricht aus einer eigenen Erfahrung (wenn es sein muss, und weil wir das Wort ja wieder einigermaßen sauber-geputzt haben: „authentisch“), in einigermaßen gewählten Worten und mit einem gewissen Wohlklang zu einer anderen Individuali-tät, welches Geschlechtes auch immer. Und so war, das denke ich zumindest, Warner keine aktivistisch-aggressive Emma-Feministin und keine passiv-aggressive philosophische Butler-Feministin. Beides ist und war vielleicht nötig, aber, nun, da zitiere ich wohl am besten Warner: Ich hasse Systeme nämlich auch. Wenn sie funktionieren, führen sie zu Furcht, Dummheit und/oder Grausamkeit; und wenn sie nicht funktionieren, braucht man sie sowieso nicht, jeder alte braune Teekessel ist besser. Warner hat sich politisch engagiert, mutig und vielfältig, sie hat für die Frauen gesprochen, sie hat (mindestens) eine Frau geliebt, sie war sich bewusst, was es heißt, eine Frau zu sein in einer bestimmten Situation ¬– nämlich eine schreibende Frau – in einer bestimmten Zeit – geprägt von Weltkriegen – und mit ei-nem bestimmten Körper – der ihre Privatsache war. Aber wenn ich sie mir als Feministin vorstellen möchte, dann denke ich sie mir als diejenige Frau, die dieses Gedicht geschrieben hat:
Gloriana dying
None shall gainsay me. I will lie on the floor.
Hitherto from horseback, throne, balcony,
I have looked down upon your looking up.
Those sands are run. Now I reverse the glass
And bid henceforth your homage downward, falling
Obedient and unheeded as leaves in autumn
To quilt the wakeful study I shall make
Examining my kingdom from below.
How tall my people are! Like a race of trees
They sway, sigh, nod heads, rustle above me,
And their attentive eyes are distant as starshine.
I have still cherished the handsome and well-made:
No queen has better masts within her forests
Growing, nor prouder and more restive minds
Scabbarded in the loyalty of subjects;
No virgin has had better worship than I.
No, no! Leave me alone, woman! I will not
Be put into a bed. Do you suppose
That I who’ve ridden through all weathers, danced
Under a treasury’s weight of jewels, sat
Myself to stone through sermons and addresses,
Shall come to harm by sleeping on a floor?
Not that I sleep. Any bed were good enough
If that were in my mind. But I am here
For a deep study and contemplation,
And as Persephone, and the red vixen
Go underground to sharpen their wits,
I have left my dais to learn a new policy
Through watching of your feet, and as the Indian
Lays all his listening body along the earth
I lie in wait for the reverberation
Of things to come and dangers threatening.
Is that the Bishop praying? Let him pray on.
If his knees tire his faith can cushion them.
How the poor man grieves Heaven with news of me!
Deposuit superbos. But no hand
Other than my own has put me down –
Not feebleness enforced on brain or limb,
Not fear, misgiving, fantasy, age, palsy,
Has felled me. I lie here by my own will,
And by the curiosity of a queen.
I dare say there is not in all England
One who lies closer to the ground than I.
Not the traitor in the condemned hold
Whose few straws edge away from under his weight
Of ironed fatality; not the shepherd
Huddled for cold under the hawthorn bush
Nor the long-dreaming country lad who lies
Scorching his book before the dying brand.
Gloriana, sterbend
Kein Widerspruch! Ich werde auf der Erde liegen.
Bisher sah ich auf euch herab. Von Pferderücken, Thronen,
vom Baldachin hinab auf euer Aufschauen.
Der Sand ist durch. Jetzt drehe ich die Uhr um.
Von nun an huldigt ihr mir abwärts, ohne Aufhebens
gehorsam niederfallend wie die Herbstblätter,
als bunte Flecken für den Quilt meiner wachsamen
Betrachtung meines Königsreichs von unten.
Wie groß sind meine Leute! Wie ein Volk von Bäumen
schwanken sie, seufzen, nicken mit den Köpfen, rascheln über mir,
und ihre aufmerkenden Augen sind mir so fern wie Sternen-licht.
Ich habe immer schon die Schönen, Gutgewachsenen ge-schätzt.
Nicht eine Königin hat größre Masten irgendwo in ihren Fors-ten,
noch stolzere und eigensinnigere Köpfe, eingepasst
in Schwertscheiden der Untertanentreue!
Nicht eine Jungfrau genoss jemals bessere Verehrung.
Lass mich in Ruhe, Weib! Ich werde nicht
Zu Bette gebracht werden. Denkst du etwa, dass ich,
die ich durch alle Wetter ritt, die tanzte unter
Juwelen, schwer wie Staatsschätze, die
Durch Predigten und Ansprachen hindurch sich selbst zu Stein saß,
dass ich Schaden nehmen könnte, schlief ich auf der Erde?
Nicht, dass ich schlafen wollte! Wollt ich schlafen,
ein jedes Bett wär gut genug für mich. Doch bin ich hier
für tiefe Untersuchungen, Betrachtungen,
und wie Persephone, oder die Rotfüchsin,
will ich im Unterreich meinen Verstand wetzen,
verließ ich meinen Baldachin, um eine neue Politik ¬
beschauend meine Füße und, dem Inder gleich,
der liegend an der Erde horcht mit seinem ganzen Leib ¬
zu lernen, lieg ich hier und warte auf den Widerhall
von Dingen, die da kommen werden, drohenden Gefahren.
Ist das der Bischof? Lasst ihn weiter lamentieren,
wenn seine Knie müde werden, mag sein Glauben
ihnen Polster sein.
Oh, wie der arme Mann mit Klagen über mich den Himmel ein-trübt!
Deposuit superbos. Doch keine Hand
als meine eigene hat mich gefällt.
Nicht Schwäche, aufgezwungen Geist und Gliedern,
nicht Furcht, Vorahnung, Einbildung, noch Alter, Lähmung
haben mich gefällt. Ich liege hier, durch meinen freien Willen
und durch die Neugier einer Königin!
Ich darf wohl sagen, niemand in ganz England
liegt näher noch am Erdboden als ich.
Nicht der Verräter in der Todeszelle, wo
nur wenig Stroh sich biegt unter dem Eisen der Notwendigkeit,
nicht der Hirte, zum Schutz vor Kälte eingekauert
unterm Dornenbusch,
und nicht der Bauernjunge, der nach langen Träumen
sein Buch verbrennt, bevor der Tod ihn brandmarkt.
Das ist wahrlich nicht einfach zu verstehen. Aber wenn man auch noch wenig von den Worten und Sätzen versteht beim ers-ten Lesen, sollte man den Tonfall spüren: Hier spricht eine Frau, die geherrscht hat, die regiert hat, die keine Mühen gescheut hat und keine Lasten, die so stark war, wie eine Frau nur stark sein kann, und die jetzt noch im Sterben ihren eigenen Willen, ihren eisernen Mut und ihre unsterbliche Neugier. Und wenn sie dafür die Welt umdrehen muss, sei es drum – dann sieht man sie halt von unten, das ist eine neue Erfahrung und gelernt wird sie mit dem ganzen Körper, der nun an der dunklen Erde horcht, und einem lebenslang geschärften Verstand. Natürlich ist sie eine Königin, und sie spricht zu ihren Untertanen, was für demokrati-sche Ohren immer irgendwie skandalös ist; aber wo wären wir, wenn sich starke Frauen nicht der Last des Herrschens unterzo-gen hätten? Nun gut, man sieht vielleicht nicht direkt Angela Merkel daliegen, aber mit der altehrwürdig ergrauten Queen Eli-zabeth II. ist man schon ziemlich dicht dran – und wenn diese Welt noch mit irgendeinem Respekt auf eine Königin blickt, dann ist es sicherlich diese. Und die Gloriana im Gedicht ist na-türlich niemand anders als Elizabeth I., die virgin queen des blü-henden Elisabethianischen Zeitalter in England, das Shake-speare und Francis Bacon hervorgebracht hat und den Aufstieg von England zur See- und Handelsmacht und vieles Andere Schöne und Lobenswerte, und vieles Andere Abstoßende und Grausame, wie noch jede Blütezeit (nur in Arkadien und dem sand-strahlgereinigten Denken der woke-generation fließt niemals Blut, sondern immer nur Milch und Honig). Ihre Lebensgeschichte wurde seither immer wieder erzählt und verfilmt feiert (empfehlenswert: die BBC-Miniserie ‚Elizabeth‘ mit Glenda Jackson; es ist, als hätte die Hauptdar-stellerin das Gedicht gelesen und ver-körpert), den Rest kann man rela-tiv kompakt (Wikipedia, deutsch) oder sehr ausführlich (Wikipedia, englisch) nachlesen, und jede Nacherzählung verliert sich im Ge-wirr der Intrigen, der Glaubenskämpfe, der Hinrichtungen und Todesfälle in ihrem direkten Umfeld. Elisabeth verbrachte selbst einige Zeiten ihres Lebens in relativ wohlausgestatteten Ker-kern, ihre Mutter wurde in ihrer frühen Kindheit hingerichtet; mehrfach sollte sie strategisch-dynastisch verheiratet werden, und von den ihr zugeschriebenen Liebhabern überlebten auch nicht alle das Verhältnis. Aber irgendwann muss sie beschlossen haben, jungfräulich bleiben zu wollen; sie verlangte das auch von ihren Hofdamen (nicht immer mit Erfolg, aber es war ein wenig verstan-dener Schlüssel zu ihrem Erfolg): Denn sie wollte sich niemand un-terordnen, noch nicht einmal der Liebe; sie herrschte, and that was that. Schließlich hatte eine Jungfrau den Herrscher der Welt geboren (Elisabeth war Protestantin, den Tod von Maria Stuart versuchte sie zu vermeiden und milderte, als der Vollzug des Todesurteils politisch-strategisch unvermeidbar war, zumindest die Umstände ab). Bereits zu Lebzeiten verherrlichte sie der Dichter Edmund Spenser in ei-nem monumentalen Versepos (ja, wie das Mamillion) als fairy queen, als Feenkönigin (es ist ein Werk voller Anspielungen und mytho-logischer und historischer Bezüge, und selbst die Allesleserin in mir hat es noch nicht geschafft, sich durch diesen Wald zu kämpfen). Und die virgin queen war für die Zeitgenossen schon „Gloriana“, die Glor-, Ruhm- und Siegreiche! (sie tritt übrigens auch auf in Virginia Woolfs‘ Orlando‘, das sich vom Tonfall her ganz ähnlich liest wie ‚Gloriana Dying‘, und mindestens ebenso anspielungsgesättigt ist wie Spensers ‚Fairy Queen‘). Alles das kann man jetzt in das Gedicht hinein-denken, und dann kann man es wieder hinausdenken; denn am Ende ist es nicht nur eine historische Königin, sondern eine stol-ze und starke Frau (man schämt sich fast dieser Floskeln, aber sie stim-men in diesem Fall nun einfach im Wortsinn), die stolz und stark ster-ben will. Dass dabei auch ein wenig die Vulgata zitiert wird, auf Latein natürlich; dass die kriegerischen Metaphern („scabbarded“) ebenso wenig übersetzbar sind wie die genialen Wortschöpfun-gen (to sit oneself to stone, das überfordert auch DeepL) – nun gut, die Leserin muss sich solch eines königlichen Textes halt würdig erweisen, und wenn das ein wenig Bildungsrecherche erfordert, ist das ja nicht direkt von Übel in dieser Welt des Übels. Und bei aller Bildungsrecherche und google-Versiertheit ist es auch mir bei weitem nicht gelungen, alle literarischen und mythologischen Anspielungen zu klären. Persephone, ok, das ist halbbekannt und leicht zu finden; aber schon die „red vixen“ bringt einen zwar auf eine beachtliche Reihe Treffer im Softporno-Bereich (offen-sichtlich ist das ein erotisches Stereotyp, was man nicht alles nicht wissen kann!), aber was sie mit Persephone gemein oder der Unterwelt zu tun hat – keine Ahnung, vielleicht altenglische Mythologie, vielleicht auch nur die gemeine Rotfüchsin, die halt ihre Kinder im Fuchsbau austrägt und bewacht; das macht eigentlich auch eine ganz hübsche Vorstellung und fügt sich nicht schlecht zu den bekannten Porträts der Virgin Queen, die immer etwas bläss-lich ausschaut und angeblich rotblondes Haar hatte. Aber am schwierigsten (man möchte sagen: am „herausforderndsten“, wenn das Wort nicht völlig vor die Hunde gegangen wäre und dringend ein wenig rotfüchsisches Blut zur Wiederbelebung bräuchte) ist der Schluss. Es fällt nicht schwer, sich den Gefangenen zu imaginieren in einem der hässlicheren Londoner Kerker, vielleicht sogar einen ihrer platonischen Liebhaber wie den schönen Lord Essex (wie gesagt, die Zeit war zwar auf der Oberfläche bildungswütig und humanistisch, darunter aber ziemlich hinrichtungsversessen, großes Kino halt); sogar den Hirten unter dem Dornbusch könnte man sich wahlweise biblisch oder arkadisch imaginieren. Aber den Landjungen, der sein Buch verbrennt – wobei die Übersetzung höchst spekulativ ist, denn es könnte auch sein, dass nur das Feuer erlischt, bei dem er liest, und nie werden wir es wissen – aber auf jeden Fall wird ein Buch verbrannt, und zwar von einem Landjungen ¬– männlich, Unterschicht –, und damit endet das Gedicht, und das ist ja nicht irgendeine Stelle!
Wir könnten uns jetzt natürlich auf den berühmten „offenen Schluss“ herausreden, der die Kreativität des Lesers, genau: „herausfordert“! und was all die Rezensionsbanalitäten der Mo-derne so sind. Oder man könnte versuchen damit zu leben, dass nicht alles geklärt werden kann. Das Offene offenlassen, einfach so. Sich statt dessen gelegentlich auf den Boden legen, mit dem ganzen horchenden Körper die eigenen Füße beschauen und eine ernsthafte Studie zu beginnen. Schließlich braucht man dazu kein Buch?
Und sterben muss man sowieso, egal ob virgin queen oder country lad. Und Sylvia Townsend Warner war nicht nur mutig genug, lustige Gedichte über moralische Sündenböcke, leichtsinnige Gedichte über frühlingshafte Hausfrauen, gerechte Gedichte über Prometheus oder eigenwillige Gedichte übers Sterben zu schreiben; nein, sie hat auch über das Alter und seine Leiden und Gebrechen geschrieben. Ich mag mir gern vorstellen, wie sie das folgende Gedicht spät in der Nacht notierte, eingewickelt in eine dicke handgestrickte Decke in einer Sofaecke, mit einem heißen Kakao vielleicht und all den Mittelchen, die den Schlaf zu uns Alten und nicht mehr ganz Gesunden bringen sollen, aber nur das Grübeln bringen, und die schmerzharte Erinnerung an frühe-re Leichtigkeiten und Selbstverständlichkeiten, und draußen schreit ein einsames Käuzchen, und der Morgen kommt und kommt nicht:
Ah sleep, you come not
Ah, Sleep, you come not, and I do not chide you.
You the ever-young, the sleek and the supple,
How should I bride you
Who am so harsh with care, so grimed with trouble?
You to the child’s cot and the lover’s pillow,
You to the carelesse creation in field and steading,
And to my roof-mate swallow
Come with goodwill, who come not to my dull bidding.
Like lies down with like. If I am to woo you
I must disguise myself, and in youth’s green
Habit pursue you,
Or imagine myself so what I never have been:
Or you in pity put on death’s leaden likeness
To follow my weariness.
Ach Schlaf, du kommst nicht
Ach, Schlaf, du kommst nicht, und ich schelte dich nicht dafür.
Wie sollte ich dich, immer jung, glatt und geschmeidig,
mir vermählen,
die ich so rau vor Sorge bin, so beschmutzt von Mühe?
Du kommst zur Wiege des Kindes und dem Kissen des Lie-benden,
zur sorglosen Kreatur in Feld und Gehöft,
kommst zur Schwalbe, meiner Dachgenossin,
kommst gutwillig, aber nicht zu meinem dumpfen Werben.
Gleich legt sich gern zu gleich. Wenn ich dich betören soll,
muss ich mich verkleiden und dich im Grün der
Jugendtracht verfolgen.
Oder mich mir selbst imaginieren, wie ich niemals war:
Oder du legst die bleierne Gestalt des Todes an,
um meiner Mattigkeit mitleidig sich anzuschließen.
Lange habe ich gegrübelt, ob der Doppelpunkt am Ende der drit-ten Strophe ein Druckfehler ist; denn die verkürzte vierte Stro-phe nimmt den Vorsatz nicht auf, verweigert geradezu die Aus-sage und wechselt in einer, wie man das ausnahmsweise mal anschaulich-fachlich nennt: „Leerstelle“ von einer leeren Vor-stellung des lyrischen Ich zum Tod. Aber ist dieser etwas, was er doch nicht einhalten kann, versprechende Doppelpunkt nicht geradezu zum Zeichen der Verzweiflung, oder besser vielleicht: der stummen Resignation geworden? Denn sich selbst so vorstel-len, wie man doch niemals war, ewig jung, ewig schlank, von nimmermüdem Grün – es wäre ja doch eine Lüge, die der Tod sofort durchschauen würde. Der Tod selbst jedoch, er ist mit-leidsvoll; er kann sich anverwandeln, auch wenn wir, so soon hushed, nur noch schwach und schwermütig sind, rau vor Sorge und Mühe.
In einem anderen Gedicht – Warner schrieb es nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin Valentine Ackland im Jahr 1970 –, tritt sie dem Tod noch ein Stück näher. Es heißt:
Azrael
Who chooses the music, turns the page,
Waters the geraniums on the window-ledge?
Who proxies my hand,
Puts on the mourning-ring in lieu of the diamond?
Who winds the trudging clock, who tears
Flimsy the empty date of calendars?
Who widow-hoods my senses
Lest they should meet the morning’s cheat defenseless?
Who valets me at nightfall, undresses me of another day,
Puts tidily and finally away?
And lets in darkness
To befriend my eyelids like an illusory caress?
I called him Sorrow when first he came,
But Sorrow is too narrow a name;
And though he has attended me all this long while
Habit will not do. Habit is servile.
He, inaudible, governs my days, impalpable,
Impels my hither and thither. I am his to command,
My times are in his hand.
Once in a dream I called him Azrael.
Azrael
Wer wählt die Musik aus, wendet das Blatt,
Wer wässert die Geranien am Fensterbrett?
Wer streift mir
Den Trauerring anstatt des Diamanten über?
Wer stellt die schleppende Uhr, wer zerpflückt
Zu Fetzen die leeren Zahlen des Kalenders?
Wer verwitwet meine Sinne, dass
Sie nicht dem lügenhaften Morgen schutzlos
Ausgeliefert sind?
Wer wartet mir auf beim Einbruch der Nacht,
Entkleidet mich wieder eines Tages,
Schlägt mich sorgfältig und endgültig ein
Und lässt die Dunkelheit ein, die meine Lider
trügerisch liebkost?
Als er zum ersten Mal erschien, nannte ich ihn Sorge.
Doch Sorge ist ein viel zu schmaler Name.
Und auch wenn er mich nun schon lange Zeit begleitet,
Wäre Gewohnheit nicht genug. Er ist niemandes
Diener.
Er, unhörbar, befiehlt meine Hände.
Er, unmerklich, treibt mich hin und her.
Ich bin ihm untertan. In seiner Hand liegt meine Zeit.
Einmal, im Traum, fand ich ihm einen Namen: Azrael.
Ist er eine Variante des loving huntsman, der Todesengel Azrael? Denn das ist Azrael in der jüdischen und der islamischen Religi-on und dem späteren indischen Sikhismus. Eine zwiespältige Gestalt, schwebt er zwischen den alten metaphysischen Abgrün-den von Gott und Teufel, Himmel und Hölle. Er holt die Seelen der Sterbenden ab und befördert sie ins Jenseits. Dabei bedient er sich einer Schriftrolle, auf die jeder Name bei der Geburt ein-getragen und beim Tod wieder ausgelöscht wird – als eine Art Buchhalter des Todes, nicht schrecklich (Nicht jeder Engel ist schrecklich, aber das wusste Rilke schon selbst in seinen schwächeren Stunden), nicht niedlich-lockig, sondern anders je nachdem, wie man ihn sieht. Azrael kommt zu jedem, König, Bischof oder Schriftstellerin. Er kündigt sich vorher an, er ist ein höflicher Gast; er nistet sich ein, übernimmt die Dienste, die die liebende Gefährtin nicht mehr leisten kann; er ist wie eine sorgende Mut-ter, die das Kind für die Gefahren der Nacht vorbereitet, es sorg-sam in eine warme Decke schlägt und die Dunkelheit wegküsst. Aber er ist auch ein Herrscher, authentisch wie noch jeder Machthaber, dem sich jede unterordnen muss, früher oder später, wenn nicht mehr das Leben treibt, die Sinne verwitwet sind, die Uhren stehenzubleiben scheinen. Er leitet einen Übergang ein, von der Welt des Morgens und der blühenden Geranien und der Ewigkeit versprechenden Diamanten hin zu einer dunklen Welt, die man jede Nacht im Schlaf betritt, probeweise: „What is mans’ chief end? Death, I would suppose, since we practice for it every night of our lives”, hatte Warner in der Trauer über die sinnloseste aller Menschen- und Lebensverschwendungen, den Krieg, geschrie-ben. Es stimmt aber auch davon unabhängig. Der Tod ist ein unwiderlegbarer Zweifel am Leben, seiner absolut tuenden Al-leinstellung, seiner blinden Bevorzugung, seiner vermeintlichen Alternativlosigkeit. Es gibt immer eine Alternative; alles andere wäre einseitig, schief, und vor allem: wertlos (man erprobe den Satz. Es tut weh, aber es gibt keine Alternative dazu). Azrael, das ist immer-hin ein schöner Name, und man freut sich, wenn man ihn gefun-den hat. Jetzt kann man ihn beim Namen nennen, er ist nicht mehr nur ein loving huntsman, ein Mann ohne besondere Eigen-schaften. Und eine Frau ohne Eigenschaften legt sich beruhigt schlafen.